unerwartete Verwandtschaft

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Lilyanna

Ich versuchte meine brennende Wut auf Ducan zu unterdrücken, während ich neben ihm auf dem Thron saß, auf den ich eigentlich noch nicht gehörte.

Meine Hofdamen hatten mir in der Zeit, in der die Küche mit dem Zubereiten der Süßigkeiten beschäftigt gewesen waren, einen Schnelldurchlauf in Sachen Etikette gegeben und in dem war deutlich zu Sprache gekommen, dass ich erst auf dem Thron neben ihm Platz nehmen würde, wenn ich die Krone der Winterlande trug.

Doch irgendwann, vor fünfzig Jahren, war diese Tradition dann verloren gegangen, denn schon Owellya hatte neben Ducan gesessen und nicht mehr auf den kalten Stufen zu seinen Füßen, wie es sonst üblich gewesen wäre. Ich lachte bitter in mich hinein, als ich mir vorstellen, auf ein paar Kissen vor dem König der Winterlande zu knien.

Wie ein Schoßhund, der darauf wartete, gestreichelt zu werden, wie die Dirnen es manchmal in Cedriks Bordellen getan hatten, weil ihre Freier darauf bestanden.

Das hätte ich nie getan!

Niemals!

Ich würde niemals vor Ducan knien, nicht zu offiziellen Anlässen und auch nicht danach. Lediglich dann, wenn es mir selbst gefiel und er es sich verdient hatte!

Der heiße Stolz hielt mich aufrecht auf diesem Thron aus eisigem Stein und ich versuchte den kurzen Umhang, um meine Schulter nicht verrutschen zu lassen um den Mann, der gerade seine Bitte vorgebracht nicht noch mehr Einblicke zu gestatten.

Ich hatte normalerweise keine Probleme damit, Haut zu zeigen. Ich war in den Sommerlanden groß geworden und hatte dann viele Stunden in Cedriks Bordellen verbracht. Scham war das Letzte, was ich dabei empfand und dennoch war der Blick dieses Mannes geradezu obszön und ich war mir ziemlich sicher, dass er jeden Moment anfangen würde, sich die Lippen zu lecken.

Ich versuchte, es zu ignorieren. Mit geifernden alten Männern hatte ich nicht zum ersten Mal zu tun und ich wusste, dass es dafür bei einigen keinen tiefen Ausschnitt brauchte. Sollte er sich doch ansehen, was ich zeigte, aber keinen Zentimeter mehr!

"Ist das alles?", fragte Ducan und der Mann warf einen gespielt demütigen Blick in Ducans Richtung.

"Gewiss, mein König. Ich danke euch", sagte er, nachdem er zugesichert bekommen hatte, dass der Streit um ein Stück Boden mit seinen Nachbarn in den Archiven beigelegt werden würde, wo die Grenzen irgendwann einmal festgesetzt worden waren. Dann ging er und ich atmete tief aus, als die Tür, aus der er glitt, verschlossen blieb.

Es war vorbei.

Er war der Letzte einer scheinbar unendlichen Flut von Bittstellern gewesen und ich konnte nur hoffen, dass es nun endlich aufhören würde. Ich hatte es mir amüsanter und lehrreicher vorgestellt, neben Ducan zu sitzen und zu erfahren, mit welchen Bitten die Bewohner dieses Landes an ihren König traten. Doch dass das Meiste davon so banal sein würde, schockierte mich.

Plänkeleien wegen wenige Fuß Land, Zuteilungen von Befugnissen, die Bitte um mehr Gelder und Material für einige Städte. Wirkliche Sorgen und Nöte waren da nicht dabei gewesen. Und noch etwas war auffällig.

"Kommen nur Adelige, Großbürger und andere Amtsträger zu dir? Ich hatte mindestens mit einem Bauern gerechnet, der sich über seinen Landvogt beklagt", fragte ich und Ducan drehte sich zu mir um.

"Es steht jedem offen, aber sie wenden sich meist nicht direkt an mich und ziehen es vor, ihre Angelegenheiten von anderen Stellen schlichten zu lassen", sagte er leise und ich wusste, was er mir damit zwischen den Zeilen sagen wollte.

Sie hatten Angst vor ihm. Fürchteten sein Urteil oder glaubten sich zu unwürdig, um die Zeit ihres Königs dafür in Anspruch zu nehmen.

"Wie erfährst du dann von den Problemen der einfachen Leute?", fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits erahnte: Gar nicht. Und ich sah an seinem zerknirschten Gesichtsausdruck, dass ihm das ebenso wenig gefiel wie mir, selbst wenn dieses 'zerknirschte' nur eine leicht gerunzelte Braue war. Für jemanden wie Ducan war eine solche Geste bereits ein regelrechter Gefühlsausbruch.

"Ich bestehe auf Listen, die die Schlichtungsstellen führen müssen, um mir einen Überblick zu verschaffen. Ich kann die Leute nicht dazu zwingen, eine lange Reise hierher auf sich zu nehmen, um mir ihre Sorgen vorzutragen", meinte er und da lag er nicht ganz falsch.

"Mein Vater empfing Bauern aus den entferntesten Winkeln. Sie kamen wegen Hühnereier, die auf dem Land eines anderen gelegt worden waren, wegen zerstörten Zäunen, wegen Wüsten, die nach einem Hochwasser plötzlich ergrünt waren und die Kakteenernte vernichteten. Einmal kam eine Frau, die den Ring ihres Verlobten in einem Teich verloren hatte und dieser wurde von einem Zierfisch verschluckt, den der Besitzer des Teiches sich weigerte herauszugeben", meinte ich und sah tatsächlich so etwas wie Freude in Ducans Augen aufblitzen.

"Wie entschied er?", fragte Ducan tatsächlich interessiert und ich lachte kurz, als ich an diese Geschichte dachte.

Ich war nicht dabei gewesen, aber es waren diese kleinen Probleme, über die meine Eltern sich beim Abendessen unterhielten hatten, über die sie scherzten. Nicht weil sie es lächerlich fanden, sondern weil sie es als Privileg wahrnahmen, neben allen großen Problemen diese Verbindung zu ihrem Volk zu haben. Ich war davon überzeugt, dass Ducan die Audienzen mehr bereichern würden, wenn das einfache Volk zu ihm käme, weil man so das Gefühl bekam, tatsächlich etwas zu bewirken. Zumindest hatte mein Vater es immer so empfunden.

Er hatte meiner Mutter einmal erzählt, dass ihn die große Politik ermüdete, weil er das Gefühl hatte, immer nur wenig ausrichten zu können. Aber einem Mann einen Ausgleich für eine verlorene Ernte zu zahlen oder ihnen ein Hühnerei aus der Küche mitzugeben, Kleinigkeiten eben, hatten ihn aufrecht gehalten. Motiviert.

"Das musste er nicht. Er lud die Parteien zu sich und es kam heraus, dass die Frau eigentlich weder den Ring noch den Verlobten wollte. Sie heiratete zum Schluss den Besitzer des Teiches. Der Verlobte erhielt den Ring zurück", erklärte ich und Ducans Mundwinkel kräuselten sich. Es war ein richtiges Lächeln und es ließ meine Wut auf ihn verrauchen wie Salzwasser in der heißen Sommerluft.

"Das sind Geschichten, die nur das Leben schreiben konnte", gab er zu und ich sah, wie Ducans Blick wieder finsterer wurde.

"Sie kommen nicht zu mir Lilyanna. Sie fürchten mich zu sehr", meinte er und klang dabei alles andere als glücklich.

Gerade wollte ich ihm einige aufbauende Worte schenken, als dann doch noch die Tür zum Thronsaal aufging und ein Mann hineintrat.

Mehrere Männer. Männer in wallenden roten und gelben Roben mit Lederbesätzen und Blattstickereien. Roben der Herbstlanden und hinter Ihnen kam Eugen.

"Hoheit. Der Botschafter der Herbstlande, wie gewünscht", meinte dieser, doch mein Blick verweilte auf einem Mann, dessen Gesicht ich schon so lange nicht mehr gesehen hatte, dass ich glaubte, es stamme aus einem anderen Leben.

Es traf mich wie ein Schlag, als ich ihn erkannte. Ich war kurz unsicher, ob er es tatsächlich war, aber als auch er meinem Blick begegnete, wusste ich es. Ich sah es.

Denn diese Augen, diese Augen waren meine Augen. Die Augen, von der meine Mutter immer gemeint hatte, ich hätte sie von ihrem Vater, meinem Großvater geerbt.

"Tristan?" fragte ich vollkommen außer mir und auch in seinem Ausdruck lag erkennen.

"Hallo ... Cousine", meinte er nur und klang dabei so überrascht, wie ich mich fühlte. Als hätte er ebenso wenig mit meinem Erscheinen hier gerechnet, wie ich mit dem seinen. Doch da war er: Tristan. Mein Cousin.

 Mein Cousin

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Chroniken der Winterlande Band 1 & 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt