Kapitel 101
Lilyanna
Ich las das Kapitel darüber, mit welchen alltäglichen Zerstreuungen sich eine Königin beschäftigen sollte und musste einmal wieder feststellen, dass meine Fähigkeiten begrenzter waren, als ich jemals hätte befürchten können.
Wenn man ernsthaft von mir erwartete, nichts weiter zu tun, als Bälle abzuhalten, zu sticken und Kinder zur Welt zu bringen, würde dieses Leben noch sehr viel belastender werden, als ich es befürchtet hatte.
Frustriert legte ich das Handbuch für die 'feine Dame' beiseite und blickte verloren in die Flammen des Kamins.
Ich sollte schlafen gehen.
Die Sonne war bereits wieder beängstigend nahe hinter dem Horizont verschwunden und die Müdigkeit der Reise lag mir noch immer in den Knochen. Doch genauso wie die Erschöpfung, nagte auch die Gewissheit an mir, dass mein Volk sich von mir verraten fühlte.
War es falsch hier zu bleiben und sich dazu zu entschließen, die Vergangenheit ruhen zu lassen? Und war es überhaupt ein 'ruhen lassen', wenn ich noch so viel Wut und Hass auf meinen Onkel verspürte?
Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendjemanden auf dieser Welt gab, der Oswald mehr verabscheute als ich. Der Gedanke, dass er die Sommerlande, mein Heimatland, in den Ruin trieb, ließ mich einfach nicht zur Ruhe kommen.
Als ich noch Lil war, hatte ich versucht, dieses Gefühl zu verdrängen und mir eingeredet, es wäre besser für mich, einfach den Kopf unten zu halten und mich vor dieser Verantwortung zu drücken, doch jetzt als Lilyanna konnte ich das nicht mehr. Ich würde eine Königin sein. Mit einem Reich, das unter den Taten meines Onkels litt und einer Vergangenheit, die für immer in mir nachhallen würde und auch den Weg meiner Kinder beeinflussen würde. Ich trug Verantwortung für das alles.
Ich hatte es mir weder ausgesucht noch konnte ich effektiv etwas dagegen tun. Diese Pflicht war da und es war an mir, sie zu tragen und damit umzugehen.
"Was hat dieses Buch dir getan?" fragte eine dunkle Stimme neben mir und ich zuckte erschrocken zusammen, als Ducan meine Gemächer betrat und mir in einer eleganten Bewegung das kleine Handbuch aus den Fingern zog, das ich böse nieder gestarrt hatte.
"'Handbuch für die feine Dame', ich kann mich nicht daran erinnern, so einen Unsinn zu besitzen", meinte er und ich blickte zu ihm herauf und dachte darüber nach, ihn für sein Eindringen zu tadeln, aber wenn ich ehrlich zu mir war, kümmerte es mich wenig, ob er anklopfte oder nicht. Denn ich war keine 'feine Dame'.
"Lady Charlotte hat es mir überlassen. Ich hielt es für eine gute Idee", erwiderte ich und versuchte mich auf den Ottomanen bequemer hinzusetzen, ohne meinen Fuß großartig zu bewegen.
Solange er still lag, tat er schon gar nicht mehr weh und auch sonst war der Schmerz aushaltbar, aber ich schonte ihn dennoch lieber, damit ich morgen wieder richtig laufen konnte.
"Deine Gesellschafterinnen", kommentierte Ducan, als er sich neben mich setzte und durch dieses Buch blätterte. Seine Stirn legte sich immer weiter in Falten.
"Das hilft dir nicht weiter, es ist nicht für eine Königin der Winterlande bestimmt. Ich lasse dir die Tagebücher meiner Mutter bringen. Sie war penibel in der Aufzeichnung ihrer Pflichten, das wird dich wesentlich weiter bringen", sagte er und legte das Buch dann beiseite und ich konnte mich kaum von dem Anblick seines Profils losreißen.
"Danke."
Vielleicht bildete ich es mir ein, aber er wirkte erschöpft. So erschöpft, dass er es versäumte, diese ständige Mauer aus Eis um ihn herum wieder komplett hochzuziehen. Vielleicht aber dachte er auch, es sei nicht notwendig.
Allerdings besaß ich nicht so viel Schamgefühl, es nicht auszunutzen. Ich war neugierig, womit er sich an diesem Abend hatte herumschlagen müssen.
"Gab es schlimme Nachrichten im Rat?" fragte ich deshalb und wartete, bis Ducan die Augen erst schloss und dann wieder öffnete.
Die Flammen des Kamins loderten plötzlich heller und eine wärmende Aura umschlang mich. Mir war nicht wirklich kalt gewesen, aber ich würde das sicher nicht ablehnen.
"Ein Mann namens Silias forderte mich auf, dich den Rebellen zu übergeben. Sie brauchen dich als Galionsfigur, als Existenzberechtigung für ihren Widerstand", meinte er und erinnerte mich damit an meinen eigenen kleinen Disput über den Sinn und Zweck der Rebellion in meinem Heimatland.
"Meine Gesellschafterinnen eröffneten mir, dass mich einige davon regelrecht hassen, weil sie der Meinung sind, ich hätte sie im Stich gelassen. Ich kann ihre Logik ein wenig nachvollziehen.", meinte ich daraufhin und nun blickte Ducan zu mir und für einen Moment saßen wir einfach nur da. Unbewegt, beide mit einem Problem konfrontiert, das seinen Ursprung in der Tatsache hatte, dass ich mich all die Jahre versteckt hatte. Nicht nur vor Ducan und meinem Onkel, sondern auch vor meinem Volk. Doch bereuen konnte ich es nicht und würde ich auch nie. So hatte ich überlebt.
Ducan hob die Hand und strich eine meiner Haarsträhnen aus meinem Gesicht, die sich launischerweise aus meiner Frisur befreit hatte. Nach diesem anstrengenden Tag war ich sicherlich kein wirklich königlicher Anblick.
"Denkst du darüber nach, deinem schlechten Gewissen zu folgen und zu ihnen zu gehen?" fragte Ducan offen und ich war kurz zu geschockt von dieser direkten Frage. Ich dachte darüber nach und wusste die Antwort dennoch eigentlich sofort: Nein.
"Spielt das eine Rolle?" fragte ich, weil ich nicht wusste, was er damit bezweckte. Er war zu herrschsüchtig, um eine solche Entscheidung epischen Ausmaßes auch nur ansatzweise mir zu überlassen.
"Ja", meinte er kurz angebunden, ich drehte meinen Kopf zu den Flammen, aber seine Finger legten sich um mein Kinn und drehten mein Gesicht wieder in seine Richtung.
"Antworte!", befahl er und Trotz kämpfte sich in mir hoch. Ich hasste es, wenn er mir Befehle gab, aber ich war von diesem Blick alarmiert, mit dem er mich gerade betrachtete. Es war wichtig, was ich antwortete, ich sah nur nicht warum.
"Nein. Was soll es bringen? Selbst wenn diese Rebellion Erfolg hat, bin ich schlicht nicht dazu bestimmt, die Krone zu tragen. Es würde die Winterlande viel kosten und die Sommerlande vielleicht in den nächsten Krieg werfen. Mit dir", sagte ich und als ich kurz daran dachte, ausgerechnet Ducan als Gegner zu haben, versetzte es meinem Herzen einen Stich.
Das Schicksal müsste schon sehr grausam sein, um mir das anzutun, aber bis jetzt war es auch nicht besonders gnädig mit mir gewesen. Könnte das passieren? Würde etwas mich dazu treiben, Ducan zu verlassen, damit ich den Thron bestieg, um dann letztendlich dem Mann als Feind gegenüberstehen, den ich einmal als meine unvermeidliche Zukunft betrachtet hatte?
"Eugen hat es dir unmöglich gemacht, darauf mit etwas anderem als Gewalt zu reagieren. Sonst hat dieses Reich keinen Erben", meinte ich und dachte daran, dass unsere ungeborenen Kinder bereits jetzt offiziell von der Zitadelle anerkannt worden waren. Ein riskanter Schachzug, der Ducan die Hände band.Er konnte mich nicht gehen lassen, war gezwungen mich notfalls mit Gewalt bei sich zu behalten.
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Da ist doch klammheimlich die 100 Kapitel marke Übersprungen worden.
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Chroniken der Winterlande Band 1 & 2
Romansa(jeden Freitag) Die Prinzessin, die sie einmal war, ist fast vergessen. Ihr Zuhause unerreichbar fern und dieses kalte Herz, das einst ihr gehörte, hatte nun eine Andere. Lilyanna hat sich längst mit ihrem neunen Leben als Flüchtling und gelegentlic...