Vorwürfe

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Kapitel 37

Lilyanna

Er stand noch immer leicht im Schatten, aber ich erkannte die durchaus kräftigen Gesichtszüge und die Umrisse seiner Statur gut genug, um ihn auch so eindeutig zu identifizieren. Das dort war Kain. Aber während mein Kopf noch damit beschäftigt war, ihn ungläubig anzustarren, machte er bereits den ersten Schritt auf mich zu.

Er bewegte sich auch so wie immer, geschmeidig und dennoch irgendwie anders. Ich habe ihn als Jungen bereits gekannt und wusste, dass es Jahre gab, wo er sich eher ungeschickt verhalten hatte, weil er nach seinen Wachstumsschüben sich erst an seine neue Größe hatte gewöhnen müssen. Aber in diesen Schritten lag längst keine Unsicherheit mehr aber auch das war nichts Außergewöhnliches, schließlich war er erwachsen geworden, auch wenn es mir wie immer schwer fiel ihn als Mann zu sehen.

Als er von den ersten, sanften Feuerschein erfasst wurde aber verstand ich wirklich nicht, was ich da sah, denn Kain hatte nichts mehr mit dem Mann gemeinsam, den ich so furchtbar zugerichtet in diesem Verlies gesehen hatte. Er wirkte nicht verletzt, sein Gesicht nicht verdreckt, sondern merkwürdig makellos, seine kurzen Haare waren ordentlich und schimmerten sogar in dem spärlichen Licht, was sie früher nie getan hatten. Doch was mich am meisten verwunderte war seine Kleidung.

Sie könnte Ähnlichkeit mit der von Ducan haben. Ein enganliegender, schwerer Stoff, der ihn steif und gerade aussehen ließ und dabei seine schlanke Gestalt umhüllte. Aber die Farbe war eine andere: Sie war schwarz. Komplett schwarz. Selbst die Verzierungen an den Säumen waren mit schwarzem Garn gemacht worden und ich hatte noch nie einen Bürgerlichen oder Adeligen in dieser Farbe gesehen. Es wirkte irgendwie merkwürdig. War es überhaupt möglich der Farbe eine solche Tiefe auf Stoffen zu verleihen? Dass es aussah, als würde das Licht auf ihnen verschluckt werden?

„Was ist mit dir passiert? Wie bist du aus den Verlies gekommen?" fragte ich verwundert und fühlte mich widersprüchlicher Weise von der Tatsache bedroht, dass er immer noch auf mich zu kam.

Das war auch nicht normal. Ich hatte nie Angst von Kain gehabt...obwohl. Nein. Das war so nicht richtig. Es hatte schon Momente geben, in denen ich ihm lieber aus dem Weg gegangen war. Ich hatte sie nur nie als bedrohlich wahrgenommen, weil sein Zorn nie mir gegolten hatte. Zu mir war er immer lieb und zuvorkommend gewesen. Er hatte auf mich aufgepasst und mit mir gelacht, selbst wenn die Zeiten definitiv nicht zum Lachen gewesen waren, aber ich wusste, dass er wütend werden konnte.

Vor allem, wenn sein Bruder sich mir näherte. Kain war alles andere als Konfliktscheu, hatte sich immer bereitwillig mit anderen Gossenjungen geschlagen und dabei nicht nur erstaunlich viel einstecken, sondern auch austeilen können. Aber nicht mir gegenüber. Niemals mir gegenüber. Bis jetzt. Denn ich wusste, dass die unterdrückte Wut, die er gerade versprühte, mir galt.

„Es gibt so vieles, was du nicht weißt, was du dir nicht einmal vorstellen kannst, Lil. Du hättest frei sein können, stattdessen hast du dich zu einer Figur auf einem Spielfeld machen lassen. Wieso hast du das getan?" fragte er, doch ich kam nicht dazu, zu antworten. Er sprach einfach weiter, als wäre meine Antwort nicht wichtig und ich wich immer weiter zurück, während er auf mich zukam.

„Du hast immer mehr gewollt, als ich dir gegeben habe, oder? Vater hat versucht die verzogene Prinzessin aus dir herauszubekommen, aber es ist ihm nicht gelungen. Du hast immer auf mich herabgesehen", fauchte er vorwurfsvoll und ich konnte nichts anderes tun, als den Kopf zu schütteln.

Er wusste es. Er hat gewusst, wer ich war, wahrscheinlich die ganze Zeit über und er irrte mit seinen Worten. Ich habe nie auf ihn herabgesehen. Nicht eine Sekunde.

„Nein. Ich hatte selbst fast vergessen, wer ich war, ich hatte...ich wollte nicht mehr Lilyanna sein. Du bist mein Freund, Kain. Ich wollte dich beschützen, ich war bei dir im Kerker und habe versucht dich da herauszuholen!", beteuerte ich und sah ihn flehend an, während sich die ersten Tränen in meinen Augenwinkeln manifestierten. Seine Wut auf mich verletzte mich, aber ich konnte ihn auch verstehen. Es sah so aus, als hätte ich ihn im Stich gelassen, als wäre ich was er sagte. Aber wie sollte ich ihm glaubhaft machen, dass er falsch lag? Ich stand hier vor ihm, in einem Nachtkleid, dass so sehr nach verwöhnte Prinzessin schrie, dass man es kaum hören konnte.

Chroniken der Winterlande Band 1 & 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt