Eine Nacht im Gasthof - Teil 2

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Kapitel 88

Lilyanna

Ich erwachte in der Nacht und wusste, dass ich mich in einem Traum befand. Nicht nur, weil der Platz neben mir leer war, wo eigentlich Ducan hätte sein sollen, sondern auch weil die Sonne hoch am Himmel stand und der drückend heiße Wind durch die scheibenlosen Fenster meines alten Kinderzimmers hereinwehte.

Aber ich war kein Kind.

Ich war erwachsen und trug ein Nachtgewand, das für meine Heimat mehr als typisch war. Ein dünner Stoff umhüllte meinen Körper an den gerade einmal intimen Stellen. Das Hemdchen bedeckte meine Brüste und meine Scham, ließ aber Bauch, Rücken und Oberschenkel frei.

Das Bett meiner Kindheit war mit einem silbernen, glatten Stoff bezogen, das leicht kühlte und das Netz darum hielt fliegende Insekten fern, die ich aber noch nie gefürchtet hatte. Wenn man in den Sommerlanden aufwuchs waren allerlei kleines und großes Insektenartiges Getier, normal oder auch mal die eine oder andere größere Spinne die friedlich in den Ecken eines Wohnraumes saß. Allerdings hatte ich gelernt, Schlangen und Skorpione zu fürchten, die einen tödlich vergiften konnten. Dennoch war es unangenehm im Schlaf etwas auf sich herumkrabbeln zu lassen und genau deshalb hatte mein Kinderbett diesen Vorhang.

Durch diesen leichten Stoff hindurch sah ich die Silhouette eines Mannes, die zu klein war, um von meinem Vater zu stammen, zu schlank, um von Ducan zu sein. Aber ich kannte sie gut.

Cedrik.

Ich erhob mich aus dem Bett und begegnete seinem Gesicht, bei dessen Anblick mir unwillkürlich die Tränen kamen. Ich hatte ihn vermisst.

Vielleicht war er tatsächlich nicht immer gut zu mir, aber dennoch hatte ich ihn ins Herz geschlossen. Und da das hier sowieso nur ein Traum war, rannte ich auf ihn zu und umarmte ihn fest. Eine Geste, die er in der Realität wohl nie zugelassen hätte.

Nach dem Tod meiner Eltern, war er derjenige gewesen, der zu meiner Bezugsperson geworden war. Nicht immer nett, nicht immer fürsorglich, aber jemanden, auf den man sich verlassen konnte. Der Stabilität vermittelte.

"Du weißt, dass du nie wieder hierher zurückkommen wirst, oder Mädchen?" raunte er mir zu, während er die Umarmung erwiderte und von der ich mich daraufhin schnell wieder löste. Ich wusste, was er meinte.

"Das hier ist nicht mehr mein Zuhause." sagte ich und sah aus dem Fenster, das die typisch dämmrige Welt offenbarte, die hier in den Sommerlanden als Nacht galt. Dabei stand die Sonne hier immer noch höher als in den Winterlanden bei Tag. Wesentlich höher

"Nein, ist es nicht. Es ist eine Erinnerung, an der du dich zurückerinnern kannst, aber auf keinen Fall festklammern darfst.

Das Schicksal dieses Reiches ist nicht dein Anliegen. Das darf es auch nicht sein. Deine Zukunft liegt in den Winterlanden. Seit deiner Geburt," meinte Cedrik hart, aber so schneidend ehrlich, dass es mich verletzte und mir gleichzeitig eine Art von Verständnis abrang, die ich brauchte.

"Ich weiß. Ich gehöre zu Ducan." sagte ich vollkommen instinktiv und Cedrik lächelte, auf diese Art wie er immer lächelte, wenn er mit etwas zufrieden war.

"Gutes Kind. So ist es richtig. Du musst deinen Platz kennen, um eine Zukunft zu haben." meinte er so selbstgefällig wie ich es noch nie hatte leiden können.

Ich schnaufte, weil es angesichts der Tatsache, dass er mich um meinen 'Platz' gebracht hatte, fast lächerlich war.

"Ich bin eine Prinzessin und du hast mich von Ducan ferngehalten!", warf ich dem Traum-Cedrik vor, weil mir dieser Streit so sehr auf der Seele brannte.

Doch zu diesem Vorwurf sagte er nichts. Natürlich nicht. Er war nur eine Traumgestalt und auf die Frage, warum er das getan hatte, wusste ich keine Antwort, also würde es dieser Cedrik auch nicht wissen.

Chroniken der Winterlande Band 1 & 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt