Ein Leben lang

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Ich hatte noch eine ganze Weile neben ihm gesessen, ohne ein Wort an ihn zu richten. Er hatte mir für diesen Moment genug erzählt, worüber ich mir erst einmal selbst Gedanken machen musste. Dinge, die ich nicht mal in meinen dunkelsten Träumen erwartet hatte. Ich wusste, dass Levia die Hölle wegen Azrael verlassen hatte. Sie hatte für einen Erzengel ihre Familie verraten. Ihre Mutter war nicht mehr hier und Zane geschah fast das selbe wie zuvor Levia, nur ging es diesmal von seinem Vater und Lucifer aus. Und Lucifer selbst? Der hatte alles verloren. Auch wenn man es ihm normalerweise nicht ansah, war ich froh darüber, dass er mir diese Seite von sich gezeigt hatte. Ich musste diese ganzen Dinge wissen, um die Geschichte hinter ihm und seiner Familie zusammensetzen zu können.

„Erst als du vorhin diese ganzen Punkte aufgezählt hast, ist mir klar geworden, dass ich es eigentlich nur noch schlimmer gemacht habe, als es eigentlich schon war. Es tut mir wirklich leid, Elodie.. Ich kann dir diese Wochen nicht zurückgeben.. oder dein voriges Leben.. es wird alles nicht mehr so sein wie damals, auch wenn du das jetzt noch glaubst." Meinte Lucifer, der sich mittlerweile wieder etwas gefasst hatte und nun inmitten des Wohnzimmers stand. Ich selbst saß noch immer auf dem Sofa, damit beschäftigt diese ganzen Puzzleteile in meinem Kopf zusammenzusetzen. „Kann ich Raphael sehen?" fragte ich nach einem weiteren Moment des Schweigens, woraufhin sich Lucifer zu mir drehte. Doch er antwortete nicht. Er blickte mich nur an und versuchte in meinen Augen eine Antwort darauf zu finden.

Wieder zeigten seine Augen nur diese dunkelbraune, fast schwarze Farbe, doch diesmal akzeptierte ich das. Ich hatte mich zwar bereits an diese glühenden Augen gewöhnt, doch er wollte mir wohl nicht noch mehr Angst machen. Nicht, nachdem ich nun alle Gründe für sein Verhalten kannte. „Ich denke, das lässt sich einrichten." Gab er nun schließlich als Antwort und meine Mundwinkel hoben sich augenblicklich zu einem leichten Lächeln. Das erste Mal seit langer Zeit, in der Lucifer mir einen nachvollziehbaren Grund gab, annähernd glücklich zu sein. Lange waren Raphael und ich zwar nicht getrennt gewesen, doch ich erinnerte mich noch gut an unseren letzten gemeinsamen Moment. Es war kein schöner gewesen.

„Ich werde ihm eine Nachricht schreiben, okay? Aber mach dir keine großen Hoffnungen, dass er kommen wird. Er vertraut mir nicht, wie du weißt." Er kramte sein Handy aus seiner Hosentasche und ich sah, wie er kurz darauf herumtippte. Die Vorfreude in mir wuchs zunehmend. Selbst Levia hätte ich in diesem Augenblick nur zu gerne gesehen, doch Raphael vermisste ich von allen Engeln am meisten. So verrückt das auch klang. Er war so anders als die anderen, dass ich ihn einfach lieber mochte. Sogar mehr als Chamuel, der wie ein Vater für mich war.

„Du trinkst das Zeug wie Wasser oder?" riss mich Luc aus meinen aufsteigenden Gedanken und ich sah, wie er in Richtung meiner Teetasse nickte. Es gab noch etwas anderes, was ich trinken konnte als wäre es nur Wasser, doch wenn ich Lucifer darum bat, war ich mir sicher, dass ich es nicht bekam. Wein war für mich zu einem Tapu-Thema geworden. „Es ist ja auch Wasser.." antwortete ich und runzelte dabei leicht die Stirn. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie wenig Lucifer von dieser Welt hier wusste, wenn er sein ganzes Leben nur in der Hölle verbracht hatte. Er musste viele Dinge hier gar nicht kennen.

„Sehr witzig." Meinte er, griff dann nach meiner Tasse und begab sich auf den Weg in die Küche. Wie schnell diese innerliche Distanz zwischen uns verschwinden konnte, war unfassbar. Es hatte nur einen kurzen Moment der Ehrlichkeit gebraucht, so dass ich keine unglaubliche Angst mehr verspürte, wenn er sich nur im selben Raum befand wie ich. Auch er versuchte nicht wieder diese grausamen Seite zu zeigen. Er brauchte es nicht mehr. Während Lucifer mir also einen neuen Tee machte, ließ ich die ganze Geschichte in meinem Kopf nochmal Revue passieren und mir kam eine wunderliche Erkenntnis: Ich hatte dem Teufel einen Grund gegeben, dass Lucifer für einen Moment, so kurz er auch war, diesen schrecklichen Ort namens Hölle, verlassen konnte. Er hatte Levia nach all der Zeit wieder sehen können, ohne dass ich von all dem wusste. Dafür hatte er mir mein Leben gerettet. Hätte er mich nicht zurück auf die Erde gebracht, wäre ich schon lange nicht mehr hier.

„Alles okay?" ich hatte gar nicht gemerkt, wie Lucifer zurück gekommen war und nun die Tasse mit dem noch dampfenden Tee darin, auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa abstellte. „Ja, alles in Ordnung." Ich nickte direkt und legte dann den Kopf leicht schief. „Hat Raphael schon geantwortet? Er lässt sich doch auch sonst nicht so viel Zeit." Lucifer seufzte leise und setzte sich dann selbst auf den Platz, den ich mittlerweile schon als seinen Stammplatz bezeichnen konnte. So wie auch ich meinen hatte. „Es sind erst ein paar Minuten vergangen, Elodie. Ich sagte doch, du sollst dir keine großen Hoffnungen machen." Ich verzog nur leicht das Gesicht und griff dann nach meiner Teetasse, ehe ich mich an etwas erinnerte, was bereits eine ganze Weile zurücklag.

„Dieser Brief.. warum hast du ihn geschrieben?" Im selben Moment als ich dies sagte, wandte er seinen Blick von mir ab. „Raphael wusste zu dem Zeitpunkt bereits von unserem Deal. Er wusste das er gehen musste und ich hatte eigentlich gedacht, dass er sich von dir verabschieden würde. Das hat er nicht getan, also.. habe ich das übernommen." Lucifer hatte es so aussehen lassen, als würde Raphael mich nicht einfach wortlos verlassen. Ich hatte tagelang nicht verstanden, warum er nach diesem Brief überhaupt gegangen war, doch jetzt war es mir klar.

„Der Tod deiner Eltern ist nicht das einzige, wobei er dir geholfen hat, oder? Das habe ich im Krankenhaus bereits gemerkt. Es war eine spontane Idee, ich dachte nicht, dass er dich.." „Lucifer.." unterbrach ich ihn, als er begann sich in seinen Worten zu verrennen und er verstummte sofort. „Danke." Ergänzte ich noch, wobei sich meine Mundwinkel ein klein wenig hoben. Doch um diese Situation nicht noch seltsamer zu machen, als sie eh schon war, trank ich einen Schluck von meinem Tee.

Es gab wieder Hoffnung in meinem Inneren und ich gab es nur wirklich ungerne zu, aber Lucifer war der Grund dafür. Die Person, die eigentlich dazu imstande war, Leid und Schmerz über die Welt zu bringen, hatte mir durch diesen Brief geholfen, mich selbst wieder zu finden. Eine abstrakte Situation, zumal ich sein Verhalten nun zwar nachvollziehen konnte, es aber noch immer bevorzugte, eine gewisse Distanz zu ihm zu halten. Ich hatte ihm damals schon nicht vertraut, warum sollte ich es also jetzt tun?

„Er wird kommen.. Raphael meine ich. Mach dir keine Sorgen." Hörte ich Lucifer sagen, als mein Blick länger als normal zur Tür gerichtet war. Von den Engeln war ich es eigentlich gewohnt, dass sie Türen benutzten. Genau wie Menschen es taten. „Bist du dir sicher?" fragte ich skeptisch nach, da ich ja nun verstand, um was es in diesem Deal eigentlich ging. Wenn er jetzt herkam, war dieser dann nicht hinfällig? „Er war dein Leben lang an deiner Seite, natürlich wird er kommen." Hörte ich da etwas Bedauern in seiner Stimme? Bei einigen von Lucifers Reaktionen, wusste ich noch immer nicht, wie ich sie deuten sollte.

Doch bevor ich erneut zu Sprechen beginnen konnte, hörte ich ein Geräusch an der Tür und nur kurz darauf das vertraute Klicken, welches entstand, wenn die Tür sich öffnete. Wie erstarrt blieb ich auf meinem Platz auf dem Sofa sitzen, fast schon darum betend, dass es Raphael sein würde und nicht einer von Lucifers Handlangern. Doch ich war nicht mehr in der Hölle. Hier gab es diese Wesen nicht. Hier gab es nur Lucifer, die Engel und mich. Der Rest der Welt schien in diesem Augenblick völlig bedeutungslos.

Erst als ein junger Mann mit strahlend blonden Haaren durch die nun geöffnete Tür trat und mich das hoffnungsvolle Blau seiner Augen traf, erfasste mich die pure Erleichterung. „Raphael.." hauchte ich leise, stellte die Teetasse achtlos wieder auf dem Tisch ab und stürzte mich regelrecht in seine Arme. Diese Wärme die mich umfing, sobald ich in seinen Armen lag, schlug wie eine Welle über mir herein. „Geht es dir gut?" hörte ich Raphael leise murmeln, während er mir sanft über den Rücken strich. Eine Berührung die mir mittlerweile so unglaublich vertraut war und sich bei Raphael dennoch immer besonders anfühlte. „Hat er dir wehgetan?"

Ich schüttelte sofort den Kopf und blickte dann langsam zu ihm hoch. In dieses strahlende Blau, welches selbst die dunkelste Nacht würde erleuchten können. „Nein.. nein, das hat er nicht. Es geht mir gut." Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir vor Erleichterung eine Träne die Wange herunter lief. Doch diesmal war es mir egal. „Hast du ihm wenigsten eine reingehauen.. für mich?" fragte er mit einem nun etwas amüsierteren Tonfall nach, woraufhin er mich etwas von sich weg schob, um mich genauer ansehen zu können. „Raphael.. ich bin nicht du." Antwortete ich darauf, während sein Blick mich aufmerksam zu beobachten schien. Ich fühlte mich endlich wieder sicher. Hier, in der Nähe von Raphael.

Undich lachte, das erste Mal seit sehr langer Zeit.

Des Teufels KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt