Abendlicher Horizont

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„Hast du.. jemals darüber nachgedacht, den Himmel zu verlassen? So wie Levia es getan hat, meine ich." Raphael, der nur wenige Zentimeter neben mir saß, schüttelte daraufhin den Kopf. „Nein, niemals." Genau wie er, blickte ich auf das klare und in der Abendsonne glitzernde Wasser, direkt vor unseren Füßen. Auch wenn der Strand im wahrsten Sinne des Wortes, vor meinem Haus lag, fand ich dennoch nur kaum genügend Zeit, um diesen Anblick wirklich genießen zu können. Doch wenn ich über etwas nachdenken wollte, so wie es diesmal der Fall war, nahm ich mir die Zeit für diesen Augenblick der Stille.

„Warum? Hast du dir nicht ein einziges Mal gewünscht, in dieser Welt hier leben zu dürfen, anstatt dort oben gefangen zu sein?" Mein Blick richtete sich auf ihn, doch er sah weiterhin zum Horizont des Meeres. „Ich bin dort nicht gefangen, Elli. Das mag jetzt vielleicht merkwürdig klingen aber ich sehe täglich tausende von Menschen kommen und gehen, in jedem erdenklichen Alter. Auch nur ein einziges dieser Leben von Anfang bis zum Ende miterleben zu dürfen, mit allen möglichen Facetten, gibt mir bereits alles was ich will. Es ist eine Ehre, solch eine Aufgabe übernehmen zu dürfen."

Er drehte den Kopf nun doch in meine Richtung und schenkte mir ein leichtes Lächeln. „Wie kommst du auf diese Frage? Du hast dir doch sonst nie wirklich Gedanken über das Himmelreich gemacht." Ich gab ein leises Seufzen von mir und blickte wieder auf das Wasser vor unseren Füßen. Hier schien die Zeit regelrecht still zu stehen. Dass Raphael bei mir war, erleichterte mich sehr. So musste ich mir nicht alleine den Kopf darüber zerbrechen. „Das ist es ja gerade, Raph. Ich habe noch immer Lucifers Worte im Kopf, als er meinte, dass ich nach meinem Tod, mit vollkommener Sicherheit in den Himmel kommen würde. Jetzt bin ich aber auch noch gezwungenermaßen ein Teil der Hölle. Es gibt also in keiner dieser Welten endgültig einen Platz für mich. Wohin gehöre ich dann?"

Ich spürte, wie Raphael seinen Arm um meine Schultern legte und ich mich fast schon automatisch an ihn lehnte. „Dein Platz ist überall und nirgendwo, Elli. Ich bin mir sicher, dass du bereits die Geschichte von Lucifers Mutter kennst, oder?" hörte ich ihn fragen, woraufhin ich lediglich mit einem bestätigenden Nicken antwortete. „Sie war auch ein Teil der Hölle, genau wie du es jetzt bist. Sie ist nach ihrem Tod jedoch nicht dort geblieben. Sie kam zu uns, ich habe sie höchstpersönlich in Empfang genommen."

„Das verstehe ich nicht. Wie ist das möglich?" fragte ich murmelnd, da mir dies wirklich unerklärlich war. Wie konnte es sein, dass selbst ein Wesen aus der Hölle, letztendlich im Himmel landen konnte? „Das ist gar nicht so kompliziert, wie du vielleicht denkst. Lucifers Mutter war eine sehr freundliche und zuvorkommende Frau.. auch wenn sie mental ziemlich angeschlagen war. Doch sie war von Grund auf kein schlechter Mensch, Elli. Sie hat ihr restliches Leben in der Hölle verbracht und ist zu uns gekommen, da sie selbst nach all den Jahren noch immer die selbe Person war, wie vor dieser Zeit."

Ich runzelte ein wenig irritiert die Stirn. „Was bedeutet das?" Nun gab auch Raphael ein leises Seufzen von sich. „Es ist nicht wichtig, WO du bist, sondern nur, WER du sein willst. Es ist also egal, in welcher dieser Welten du dich aufhältst, solange du dich daran erinnerst, welche Seele du in dir trägst." Bei diesen Worten begann ich leicht zu lächeln. „Das ist sehr poetisch, Raph." Murmelte ich leise, woraufhin ein kurzes Lachen von ihm folgte. „Schon möglich."

„Was ist mit Lucifer? Er hat sein Leben lang nur dort gelebt, sollte es bei ihm dann nicht anders sein?" Raphael schüttelte jedoch den Kopf. „Nein. Es klingt ein wenig abstrakt, aber auch er hat die Wahl, zu entscheiden, wer er sein will. Ich kenne seine Familie schon seit einer halben Ewigkeit und eines kannst du mir glauben, Elli: Lucifer wurde nicht als Monster geboren, er wurde dazu erzogen, so zu sein wie er jetzt ist. Warum dachtest du, hat er dich seit deiner Rückkehr nie wieder dazu bringen wollen, ihm in die Hölle zu folgen?"

Ich zuckte nur mit den Schultern, da ich auch darauf leider keine Antwort wusste. Umso länger ich Lucifer nun kannte, desto weniger konnte ich mir sein Verhalten erklären. Er schien sich von einer auf die andere Sekunde einfach umentscheiden zu können und das brachte mich mit der Zeit ziemlich durcheinander. „Es ist fast so, wie du es mir erklärst hast. Nur eben genau andersherum, so hat Levia es mir zumindest mitgeteilt. Du bedeutest ihm etwas aber er weiß auch ganz genau, dass du die Hölle verabscheust. Allerdings ist sie sein Zuhause und er kann dort nicht einfach verschwinden und nie wiederkommen."

„Du kannst dich im Augenblick jederzeit für eine dieser Welten entscheiden, Elli. Du kannst hierbleiben oder zurück in die Hölle gehen. Lucifer kann das jedoch nicht. Er ist seit der Krönung wortwörtlich an die Hölle gebunden. Wenn du dich gegen ihn und die Hölle entscheidest, wird er sich damit abfinden müssen." „Und was bedeutet das? Für mich?" fragte ich leise nach und hob meinen Kopf ein wenig, um ihn ansehen zu können. „Das bedeutet, dass er dich nicht bei deiner Entscheidung beeinflussen kann. Allerdings auch, dass du die Hölle betreten kannst, ohne dadurch ein schlechter Mensch werden zu müssen."

„Wäre das nicht etwas.. schräg?" es folgte ein Lachen von Raph, der mir dann kurz über die Schulter strich. „Überhaupt nicht. Noch vor einem Jahr hätte ich vermutlich noch alles daran gesetzt, um dich von solch einer Idee abzubringen, aber heute.." er schüttelte langsam den Kopf. „Sowohl Azrael, als auch Levia sind glücklich, so wie es jetzt ist. Und noch immer halten sie den Kontakt zu ihren Welten, wie eine Brücke, die uns alle miteinander verbindet. Warum sollte es also bei dir anders sein? Wenn du in der Hölle leben solltest, heißt das noch lange nicht, dass wir uns nie wieder sehen werden. Die anderen bekommen das schließlich auch hin."

Es war seltsam solche Worte von ihm zu hören. Eine indirekte Zustimmung dafür, dass ich Lucifer in die Hölle folgen sollte. Diese Unterhaltung erleichterte mich zwar von einigen Gedanken, dennoch wusste ich letztendlich noch immer nicht, was genau ich tun sollte. Jedoch wusste ich auch, dass nur ich selbst, diese Frage beantworten konnte. Raphael hatte mir lediglich ein paar Dinge offengelegt, die mir bei meiner Entscheidung helfen könnten. „Vor einem Jahr hatte ich ihn mehr verabscheut, als alles andere auf dieser Welt. Ist es seltsam, dass ich in Betracht ziehe, mich für ihn zu entscheiden?"

Wieder schüttelte Raphael den Kopf. „Sei ehrlich zu dir selbst, Elli. Keiner von uns könnte dich für etwas hassen, was sich tief in deinem Inneren richtig anfühlt. Das bedeutet aber nicht, dass ich diesen Teufel mag." Wie sehr ich es vermisst hatte, solche Gespräche mit ihm zu führen. Er wusste zu eigentlich allem eine passende Antwort. Selbst wenn sich daraus nicht unbedingt ein 'Ja' oder 'Nein' schließen ließ. „Es wäre allerdings von Vorteil, wenn du mir rechtzeitig mitteilst, falls du die Hölle wirklich als dein neues Zuhause wählen solltest. Amanda muss nicht unbedingt einen Herzinfarkt bekommen, nur weil du wieder kommentarlos verschwindest."

Diese Aussage brachte mich sogar zum Lachen, doch im selben Moment machte es mich auch traurig. Daran hatte ich gar nicht gedacht. Wenn ich wirklich in die Hölle zurückkehrte, trotz meiner Erlebnisse, würde ich sowohl Amanda als auch Tiago hier zurücklassen. Das würde meine Entscheidung wieder ein wenig erschweren. Doch ich wusste, dass ich in naher Zukunft eine Entscheidung treffen musste. Ich hatte beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Genau aus diesem Grund war ich schließlich umgezogen. Dennoch zog es mich in meinem Inneren immer wieder zurück zu Lucifer. Ich merkte es bei jedem Mal, wenn wir uns berührten. Es ließ mich einfach nicht los.

Diese Entscheidung lag nun ganz allein bei mir und als mir dies erst richtig bewusst wurde, machte es mir sogar ein wenig Angst. Denn woher konnte ich schon wissen, ob ich wirklich die richtige Entscheidung traf. „Du solltest jetzt ein wenig schlafen, Elli. Deine Woche ist wieder vollends durchgeplant. Ich dachte eigentlich, du hättest dir meinen Rat zu Herzen genommen." Gab er mit einem Schmunzeln auf den Lippen von sich und wie er beauftragt hatte, erhob ich mich von mich von meinem Platz im Sand. Wenn du nicht hier bist, gibt es nichts, was mich ablenken könnte, Raph." Gab ich ihm zu verstehen, aus welchem Grund ich meine Woche absichtlich so verplante. „Und wie du weißt.." ich hob eine Hand und tippte mir an die Schläfe. „Da drin herrscht im Augenblick das reine Chaos."

„Ichbin immer an deiner Seite, Elli. Wenn du mich brauchst, bin ich da. Vergiss dasnicht." Hörte ich Raphael noch sagen, ehe sich der Erzengel einfach in Luftauflöste und ich mich nun alleine an diesem Strand befand. Als hätte ich diegesamte Zeit vollkommen alleine hier gesessen. Lediglich die Spuren im Sanddeuteten darauf hin, dass wir dieses Gespräch wirklich geführt hatten. Allerdingsblieb mir nach diesem Gespräch noch ein weiterer Gedanke im Kopf. Was passiertemit Anthony? Würde ich ihn wirklich einfach so zurücklassen, trotz allem wasuns miteinander verband? Welche Auswirkungen hatte meine Entscheidung auf meinberufliches Leben? Musste ich all dies wirklich wegwerfen, als hätte es keineBedeutung?

Des Teufels KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt