3. Juni, Susanne

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3. Juni, Susanne

Susanne lag mit geschlossenen Augen in der Hängematte. Es war so warm, wie es an einem Nachmittag Anfang Juni nur sein konnte, und obwohl sie nur Top und Shorts trug, schwitzte sie bereits. Die Sonne schien gnadenlos auf ihr Gesicht und ihre Schultern, erst knapp oberhalb der Hüfte hatte sich der gnädige Schatten des Kirschbaumes von nebenan breit gemacht. Selbst die Vögel waren angesichts der Hitze verstummt.

Ein Taschenbuch, mit noch glänzendem Einband, lag aufgeschlagen wie ein Dach auf ihrem Bauch, schon fast zu Ende gelesen. Das Lesezeichen war herausgerutscht und lag inzwischen irgendwo halb unter ihrem Ellenbogen. Susanne seufzte, was aber weniger mit dem Inhalt des Buches, in dem der Heldin endlich ihr Date mit dem umschwärmten Footballkapitän in Aussicht stand, zu tun hatte, als mehr mit den Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen.

Sie konnte ihn genau vor sich sehen: das blonde Haar zur Seite gegelt, ein bezauberndes Lächeln im Gesicht, wie in dem Moment, als er nach der Theateraufführung zu ihnen herüber geschaut hatte. Der Umhang der Rolle, die er in dem Theaterstück gespielt hatte, hatte ihm dabei ein verwegenes Aussehen verliehen. 

Susanne stand auf süße Jungs mit einem gewissen Hang zum Draufgängertum, so wie ihre Lieblingsfilmhelden Robin Hood oder Zorro, die elegant ihren Degen oder ihr Schwert schwangen. Warum um alles in der Welt hatte sie bloß diese alte Jeans angehabt, die ihr überhaupt nicht mehr stand? Und wieso hatte sie das dämliche Käppi aufgehabt? Susanne stöhnte unwillkürlich, aber so leise, dass es lediglich die Ameisen mitbekamen, die der Hitze trotzend ihre Touren über den Gartenweg zurück legten.

Natürlich hatte er sie überhaupt nicht bemerkt, während sie ja sofort hin und weg gewesen war, als sie ihn da auf der Bühne hatte stehen sehen. Denn er sah nicht bloß blendend aus, sondern konnte außerdem gut schauspielern. Susanne mochte das Theater, hatte auch bisweilen mit dem Gedanken gespielt, selbst einmal einer Theatergruppe beizutreten, doch leider bot ihre Schule das nicht an. Wie genial wäre es, wenn sie die Julia und dieser Markus den Romeo spielen würde...

Eine Biene summte heran und lenkte Susanne von ihren schwärmerischen Gedanken ab. Penetrant umflog sie ihr Gesicht. Oder war es eine Wespe? Aber die flogen wohl noch nicht im Juni? Träge öffnete sie ihre Augen. Als wäre das ein Signal gewesen, flog das Viech von dannen. Vom langen Stillliegen tat Susanne nun der Po weh und unwillig drehte sie sich ein wenig auf die Seite. Die Hängematte schwankte leicht und die heiße Luft schlug ein paar Wellen. Das Buch rutschte auf die Matte hinunter und schlug zu. „Mist!", fluchte Susanne und setzte sich in einer raschen Bewegung, die angesichts der bisherigen Trägheit jeden eventuellen Beobachter verblüfft hätte, zum Sitzen auf.

Frustriert blätterte sie ein paar Seiten durch, bis sie die Stelle gefunden hatte, an der sie gestoppt hatte, und sah sich dann suchend nach dem Lesezeichen um. Lesezeichen war eigentlich eine Übertreibung, es handelte sich lediglich um den Fahrschein ihrer gestrigen Busfahrt. Nachdem sie ihn an seinen Platz geschoben hatte, sah sie stumpf zum Haus hinüber, aus dem leise Radiomusik zu hören war. Dann strich sie sich die verschwitzen Haarsträhnen aus dem Gesicht und richtete ihren Pferdeschwanz neu. Wieso hatte ihre Schwester einen Freund und sie nicht? Das war doch unfair! Waren sie nicht eineiige Zwillinge? Musste da nicht alles gleichzeitig passieren? Wahrscheinlich waren ihre Eltern Schuld, weil sie Susanne und ihre Schwester nach der Grundschule in verschiedenen Klassen untergebracht hatten. Damit sie eine eigene Identität entwickelten, wie sie sagten.

Susanne musste zugeben, dass sie damit eigentlich ganz gut leben konnte. Sie hatten daher auch verschiedene Freundeskreise. Aber mit ihrem Zwilling stand sie sich nichtsdestotrotz am nächsten. Sie vertrauten sich alles an und dachten oft zur selben Zeit das Gleiche. Äußerlich kaum auseinander zu halten waren sie allerdings vom Wesen recht verschieden. Susanne war die Ruhigere und Besonnenere von beiden, die gern ins Theater ging und für die Schülerzeitung ihrer Schule schrieb. Kathi hingegen war impulsiv, nicht zu übersehen und nicht zu überhören, spielte begeistert Handball und tat für die Schule nur das Nötigste.

Missmutig verharrte Susannes Blick auf dem Einband des Buches, der ein strahlendes Pärchen Hand in Hand an einem in Abendrot getauchtem Strand abbildete. Große Liebe überall. Kathi war auch gerade bei ihrem Freund. Susanne gönnte es ihr von Herzen, aber neidisch war sie trotzdem. Ihre Freundin Maike hatte wenigstens einen Brieffreund, nur sie war solo. An ihrem Aussehen konnte es wohl kaum liegen, sie sah schließlich genauso aus wie ihr Zwilling. Nun ja, nicht gerade heute, denn sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu schminken, weil sie ja ohnehin nichts vor hatte. Wohingegen Kathi....

Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es erst kurz nach vier war. Es würde also noch ewig dauern, bis Kathi zurück war. Während sie vor Langeweile verging. Ihr Blick glitt zurück zu dem Buch, aber sie hatte irgendwie keine Lust, weiter zu lesen. Vielleicht würde sie ja im Sommerurlaub auf Mallorca einen heißen Typ kennenlernen... Aber eigentlich wollte sie ja nur Markus...

Susanne ließ sich faul in die Hängematte zurücksinken und beschirmte ihre Augen mit der Hand, als sie kurz in den unverschämt blauen Himmel über ihr blickte. Der Schatten war inzwischen bis zu ihrem Bauch gewandert, aber auf ihrem Gesicht spürte sie unverändert die heißen Sonnenstrahlen. Sie schloss die Augen wieder und träumte davon, dass Markus auf sie zutrat und sie um ein Date bat. Am Rande ihrer Aufmerksamkeit nahm sie wahr, dass der Flügel des Küchenfensters knarrte, als er weiter aufgeschoben wurde.

„Susanne, hast du dich eingecremt?", hörte sie ihre Mutter wie aus weiter Ferne fragen.

Susanne tat so, als hätte sie es nicht gehört. Natürlich hatte sie es nicht getan. Ihre Mutter war ständig hinterher, dass sie sich mit Sonnencreme einschmierten, Hautkrebsrisiko und so.

„Su-san-ne!", wiederholte ihre Mutter in einem Tonfall, der deutlich machte, dass ihre Genervtheit ein paar Skalapunkte nach oben gewandert war.

„Jaaaaa, hab' ich", gab Susanne schließlich gedehnt zurück, ohne die Augen zu öffnen, und versank dann wieder in ihren Träumereien, während irgendwo ein Vogel die Hitzelethargie überwunden hatte und munter eine Melodie zwitscherte.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt