13. November, Susanne

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13. November, Susanne

Susanne hatte ein miserables Wochenende hinter sich. Die Ereignisse in Berlin verblassten hinter ihren persönlichen Problemen, die sie sich selbst zuzuschreiben hatte. Erst Maike und dann gestern Kathi hatten ihr zugeredet, klaren Tisch zu machen, dann würde sich alles klären. Der Vorwurf der Untreue wog tief, nie, niemals würde sie so etwas tun! Da sich Markus weigerte, mit ihr zu telefonieren, beschloss sie, direkt mit ihm zu sprechen.

Ein Besuch bei ihm zu Hause schien wenig erfolgsversprechend, daher hatte sie beschlossen, ihn auf dem Schulweg abzufangen. Sicherheitshalber hatte sie bereits um 7.oo Uhr das Haus verlassen und wartete jetzt an der Einmündung der Waldenburger Straße in den Heideweg auf ihn, ausgestattet mit einem Foto von sich und ihrer Zwillingsschwester sowie von Kathi und Sascha. Susanne zitterte ein wenig, was nicht nur an den Novembertemperaturen lag.

Beide Mädchen hatten ihr Mut gemacht; der Vorwurf der Untreue ließ sich zum Glück ja leicht entkräften, sofern Markus sie einfach zu Wort kommen ließ. Susanne rieb die frierenden Hände aneinander, denn in der Aufregung hatte sie ihre Handschuhe zu Hause gelassen.

Da nahm sie eine Bewegung in der Ferne war, jemand näherte sich auf dem Fahrrad. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Es war Markus und er näherte sich schnell, aber als er sie gewahrte, wechselte er die Straßenseite und brachte damit so viel Abstand wie möglich zwischen sich und ihr. Ohne sein Tempo zu verlangsamen, schoss er an ihr vorbei. Susanne fluchte und trat in die Pedalen, um ihm zu folgen.

„Markus, warte!", rief sie ihm hinterher, aber es war, als hätte man in den Wind gerufen.

Sie strampelte sich ab, um Geschwindigkeit aufzunehmen, denn wenn sie Pech hatte, würde Markus an der nächsten Ampel die Grünphase bekommen und sie nicht.

„Maaaarkus!" Sie rief es erneut.

Ein Hundebesitzer warf ihr einen neugierigen Blick zu, als sie vorüber sauste. In der Ferne sah sie die Ampel auf Gelb springen, Markus verlangsamte und warf einen Blick über seine Schulter. Als er sie so nah bemerkte, machte er Anstalten, die Richtung zu ändern und die Heidenkampsallee hinunter zu fahren. Susanne rang nach Atem, ihre Lungen schmerzten. Dieses Tempo würde sie nicht mehr lange durchhalten, das war klar. Die Verzweiflung bescherte ihr eine Idee.

„Markus, je veux t ' expliquer quelque chose. Attends un instant!"

Sie hoffte inständig, dass sich ihr Französisch wirklich anders anhörte als das ihrer Schwester und dass er einen Moment warten würde. Markus stutzte und wandte sich überrascht um und das reichte, um zu ihm aufzuschließen. Keuchend fügte sie hinzu:

„J'ai une soeur jumelle! Elle a un ami de Berlin-Est. Moi, je n'ai pas bisé personne."

Dann war sie bei ihm und stolperte vom Rad. Markus blickte sie nach ihrem Geständnis von derZwillingsschwester mit dem DDR-Freund perplex an. Die Ampel sprang wieder auf Grün, aber keiner von ihnen nahm es zur Kenntnis.

„Viens, on va à la boulangerie là-bas." *, sagte Markus tonlos.

Ohne zu prüfen, ob sie ihm folgte, schob er das Rad zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren bis zu einem Bäcker ein paar Meter weiter, und schloss es schweigend an. In der Bäckerei holte er sich einen Kaffee und stellte sich an einen der letzten freien Bistrotische. Susanne bestellte eine heiße Schokolade, auf die sie ungeduldig einige Minuten warten musste. Immer wieder sah sie zu Markus hinüber, aus Angst, er würde die Bäckerei gleich wieder verlassen. Er ignorierte ihre Blicke und starrte auf eine Grafik an der gegenüberliegenden Wand.

Endlich hielt sie das Heißgetränk in den Händen und steuerte seinen Tisch an. Er drehte sich um und fragte kühl:

„Qu' est-ce que tu voulais me raconter tout à l'heure?"

Susanne hatte das Gefühl, ein Stück in sich zusammen zu sinken. Er war so unnahbar. Und unmöglich konnte sie ihm alles auf Französisch erzählen.

„Ich habe niemanden geküsst", wiederholte sie leise. „Das war meine Zwillingsschwester. Sie hatte am Freitag überraschend Besuch von ihrem Freund aus der DDR bekommen."

Sie nestelte an ihrer Handtasche herum und zog zwei Fotos heraus, die sie ihm zuschob. Wortlos warf Markus einen Blick darauf, ohne sie aufzunehmen. Hastig fuhr Susanne fort:

„Ich ... ich habe dir nichts von ihr erzählt, weil ...", sie holte tief Luft, „... ich bin gar nicht Kathi. Ich bin Susanne. Und gehe auf das Heinrich-Hertz-Gymnasium."

Jetzt war es endlich heraus. Mit einer ruckartigen Bewegung fuhr Markus' Hand über den Tisch, Kaffee spritzte aus dem Becher und hinterließ eine kleine Lache.

„Was?!" entfuhr es ihm und seine Augenbrauen zogen sich stirnrunzelnd zusammen.

Susanne senkte beschämt den Blick und betrachtete seine Hände, die auf dem Tisch und dem Kaffebecher ruhten. Feingliedrige schmale Hände, die sie so gerne umfasst hielt. Es tat weh, Markus so nahe und gleichzeitig so fern zu sein.

Stammelnd begann sie zu erzählen, von der Theateraufführung, während der sie sich in ihn verguckt hatte bis zu seiner Geburtstagsparty, deren Einladung natürlich an Kathi gegangen war, und ihrer anschließenden Verabredung für's Kino. Markus schwieg dazu die ganze Zeit, bis er schließlich mit der Frage herausplatzte:

„Das geht seit Monaten so?"

Susanne hob schüchtern den Kopf und nickte unglücklich.

Markus hatte sein Gesicht in eine Maske verwandelt, es war Susanne unmöglich, herauszulesen, was hinter seiner Stirn vorging.

„Das heißt, ich habe in der Schule immer deine Schwester geküsst!?"

Wieder nickte sie, trank nervös von ihrer Schokolade und wartete auf Markus' nächste Frage. Für einen kleinen Moment nahm sein Gesichtsausdruck auf einmal einen nachdenklichen Ausdruck an und dann fragte er:

„Warst du auch mal in meiner Schule gewesen?"

„Ja, das stimmt", bestätigte Susanne, aber ihre beginnende Erleichterung wurde je von seinem sich wieder verfinsternden Gesicht gestoppt.

„Warum das alles?", wollte er barsch wissen.

Susanne schluckte. Sie hatte so gehofft, dass mit der Aufklärung der vermeintlichen Untreue und ihrem Geständnis schnell alles wieder ins Lot kommen würde.

„Als du mir von deinem Vater erzählt hattest, habe ich Angst bekommen, dass du mir die Lüge nicht verzeihst", gab sie mit kleiner Stimme von sich, „Deshalb habe ich es jedes Mal rausgezögert, dir die Wahrheit zu sagen, weil ich dachte... wenn du mich erst länger kennst..."

Susanne verstummte und sah ihren Freund mit einem flehenden Blick an, den er jedoch komplett ignorierte. Sie sehnte sich nach seiner Umarmung, nach einem "Das ist doch nicht so schlimm", nach einem verständnisvollen Lächeln statt der verschränkten Arme, mit denen er ihr gegenüber stand.

„Du hast mich die ganze Zeit belogen", konstatierte Markus verärgert und ging mit keinem Wort auf ihre Erklärung ein.

Seine Reaktion versetzte ihr einen Stich, es lief nichts so, wie sie es sich erhofft hatte. Nie würde er ihr diese Lügengeschichte verzeihen. Warum war sie nur so dumm gewesen. Alle hatten sie vor den Folgen gewarnt. Sie hatte alles kaputt gemacht, sie ganz allein. Das Schluchzen saß ihr bereits in der Kehle, als sie ergänzte:

„Es tut mir leid. Ich wollte dir nicht wehtun." Und während ihr nun die Tränen offen über die Wangen liefen, schloss sie mit erstickter Stimme: „Ich will nur, dass du das weißt. Und dass du weißt, dass ich dich liebe!"

Außerstande, den Schmerz zu ertragen, der in ihr brannte, riss Susanne ihre Tasche an sich und stürmte aus der Bäckerei.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt