Ein paar Minuten vor der vereinbarten Zeit klingelte es und dann tauchte Susi mit ihrer Freundin Maike bei mir im Zimmer auf. Die Couch knarzte, als ich mich draufsetzte und das gerade frisch bezogene Kissen lässig in Richtung Kopfende schleuderte.
„Du bist die Erste", verkündete ich und wies auf den Platz vor dem Schreibtisch, wo sie ihre Sachen hinstellen konnte. Außerdem erwarteten wir noch Nicki und Biggi, denn Susi und ich hatten für heute einen Mädelsabend geplant: erst tanzen und dann Übernachtungsparty.
Ich seufzte leise, ich war heute so gar nicht in Stimmung dafür. Dabei war es meine Idee gewesen. Aber so war das manchmal, man plante etwas und verlor dann auf einmal die Lust.
Ich zog die Beine an die Brust und legte den Kopf auf die Knie. Mir war natürlich klar, woher die mangelnde Motivation kam: Wie konnte ich feiern und Spaß haben, wenn ich gar nicht wusste, was auf der Ostseite Berlins los war. War Sascha auf weiteren Demos gegen den Staat gewesen? War er womöglich festgenommen worden?
Es machte mich verrückt, nichts zu wissen, schlimmer noch als im September, weil ich jetzt nicht ganz unberechtigt Angst um ihn hatte. Das, was ich von der Demo am 7. Oktober in den Nachrichten gesehen und gelesen hatte, spukte mir im Kopf herum. Und ich wusste noch immer nicht, wie es ihm dort ergangen war.
„Hast du keine Angst, dass wir in der Disko plötzlich Markus begegnen?", hörte ich Maikes nicht unberechtigte Frage.
Ich blickte auf und sah Susi entspannt den Kopf schütteln.
„Nein, er ist im Urlaub", erklärte sie.
„Und andere von ihrer Schule?", blieb Maike beharrlich und nickte in meine Richtung.
Susi lachte. „Na guck, so ähnlich sehen wir doch gar nicht aus."
Was in der Tat stimmte, denn ich trug die Haare hochgesteckt und Susis waren offen und unsere Kleidung war ebenfalls verschieden, denn wir hatten schon lange nicht mehr den gleichen Geschmack.
„Müssen wir doch auch, sonst könnt ihr uns nachher nicht auseinanderhalten."
Sie kicherte amüsiert, aber mir war nicht zum Lachen. Eigentlich wäre es mir sogar sehr lieb, wenn wir Markus spontan träfen und damit die ganze Sache auffliegen würde. Ich war der ganzen Lügengeschichte so überdrüssig. Wenn Papa nicht krank geworden wäre...
Ich seufzte noch einmal, aber Susi und Maike waren so in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie es nicht mitbekamen. Von sich aus gelang es Susi einfach nicht, reinen Tisch zu machen. Und irgendwie waren unsere Eltern gerade extrem tiefenentspannt, nachdem sie ihn doch vor einigen Wochen so schnell hatten kennenlernen wollen. Eine neue Essenseinladung war jetzt zu Mitte November angedacht. Wie sollte ich das bloß bis dahin noch überstehen?
Ich zog eine Grimasse und verdrückte mich ins Badezimmer, damit man mir meine schlechte Stimmung nicht ansah. Susi verstand nicht, dass es mir von Woche zu Woche schwerer fiel, das Theater in der Schule weiterzuspielen. Ich hielt das auch vor ihr verborgen, denn sie war mein Zwilling und sie tat mir wirklich leid, denn wer wusste schon, wie Markus reagieren würde.
Und natürlich brachte ich es nicht über mich, meine Drohung in unserem Streit von Ende September, Markus alles zu verraten, wahrzumachen. Aber verdammt... Ich ließ mich auf den Toilettendeckel sinken und starrte frustriert auf die hellgrauen Kacheln vor mir. Eine kleine Spinne flitzte in die Ecke, aber ich ließ sie gewähren. Irgendwann musste es doch mal ein Ende haben! Warum hatte ich bloß diese bescheuerte Idee gehabt!
Jetzt, wo ich Sascha seit über vier Wochen nicht mehr gesehen hatte, war es noch schlimmer, die liebende und gut gelaunte Freundin zu spielen. Zum Glück hing Markus auch in den Pausen inzwischen meist über den Büchern und ließ sich selten blicken. Vielleicht hatte er es auch endlich kapiert, dass seine Freundin in der Schule immer spröde sein würde und er war einfach nicht mehr bereit, sich dieser Distanz auszusetzen.
Ich lehnte mich an die Wand, schloss die Augen und stellte mir Saschas Gesicht vor. Was er wohl gerade tat? Wir hatten ewig nichts mehr voneinander gehört, geschweige denn uns gesehen. Ich hatte noch zwei weitere Male versucht, in die DDR zu gelangen, war aber jedes Mal erfolglos gewesen. Kurz nach dem 9. Oktober hatten wir außerdem versucht zu telefonieren, aber plötzlich war die Leitung tot gewesen. Und seitdem kam überhaupt keine Telefonverbindung mehr zustande. Ich wusste nicht, ob das etwas mit mir zu tun hatte oder ob es an den aktuellen Entwicklungen in der DDR lag.
In Gemeinschaftskunde sprachen wir fast jede Stunde darüber, was sich in der DDR veränderte und eigentlich hätte man ja meinen sollen, nun, nach der friedlich verlaufenden Demonstration vom 9. Oktober in Leipzig und dem Rücktritt von Honecker würde alles leichter werden, aber nichts da, für mich hatte sich nur alles verschlechtert. Ich kaute ratlos auf meiner Unterlippe.
Wieso gingen bloß keine Telefonate mehr durch? Wie ging es mit unseren Briefen weiter? Und weshalb konnte ich nicht mehr einreisen? Konnte das an seinem Vater liegen? Oder war auch für uns Berliner die Anzahl von Besuchen im Jahr doch irgendwie begrenzt? Fast hatte ich es vergessen gehabt, als ich jedes Mal zwar nach eingehender Prüfung, aber ansonsten anstandslos an der Grenze durchgewinkt wurde. Ach Sascha...
Mein Stoßseufzer durchschnitt die stickige Luft des Badezimmers und ich verspürte nicht die geringste Lust auf Disko und Party. Ein hartes Klopfen an der Badezimmertür ließ mich erschrocken zusammenfahren.
„Kathi, Schluss mit Trübsal blasen!", ließ sich Biggis energische Stimme vernehmen. „Mach auf!"
Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass es geklingelt hatte, so vertieft war ich in meine Gedanken gewesen. Schwerfällig stand ich auf und öffnete die Tür einen Spalt.
„Fahrt ohne mich...", wollte ich noch sagen, aber da rissen mir Nicki und Biggi auch schon die Tür aus den Händen, hakten mich entschlossen unter und schoben mich aus dem Bad.
„Was du brauchst, ist Ablenkung!", diagnostizierte Nicki und bugsierte mich in den Flur, wo Susi und Maike schon aufgekratzt warteten.
„Lasst mich doch einfach...."
Mein halbherziger Versuch, zu Hause zu bleiben, wurde mit den Worten „Nichts da!" beiseite gewischt.
Ich griff resigniert nach meiner Jacke und versehen mit einem fröhlichen „Viel Spaß!" von Papa machten wir uns alle zusammen auf den Weg zur Bahn, die uns in die Stadt brachte. Ich lauschte dem Gespräch der anderen, ohne mich jedoch zu beteiligen, stützte das Kinn in die Hand und sah aus dem Fenster hinaus in die Dunkelheit.
„Das wird schon, du wirst sehen...", tröstete Nicki und versetzte mir einen gutmütigen Knuff. Ich lächelte pflichtschuldig zurück, obwohl ich ihren Optimismus nicht teilte. Schließlich würde auch demnächst irgendwann Saschas Militärdienst in Sachsen beginnen....
Dann waren wir auf der Amüsiermeile und steuerten das „Starlight" an, eine beliebte Disko, der wir ab und an einen Besuch abstatteten. Nach Öffnen der schweren Tür wummerte uns schon Musik entgegen, eines der aktuellen Lieder aus den Charts, und ich spürte, wie mir wider Erwarten der Rhythmus in die Füße fuhr. Wir stürzten uns sofort ins Getümmel und versanken in einer Wolke in Musik, ohne uns damit aufzuhalten, zuerst Getränke zu holen.
Die Diskoscheinwerfer tauchten die Tanzfläche mal in grünes, mal in pinkfarbenes oder blaues Licht, die Körper der anderen Tanzenden zuckten im Takt der Musik, die Bässe dröhnten und die Musik floss durch mich hindurch wie ein Energiestrahl. Ich warf den Kopf in den Nacken, sang ausgelassen den Text mit und vergaß für den Moment alle negativen Gedanken...
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Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...