25. April, Markus

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25. April, Markus

Der Unterricht war längst zu Ende, doch Markus saß auf einem der beiden Findlinge, die den Eingang zum Schulgelände markierten und sah prüfend zum Himmel empor, in dem sich die Sonne gerade hinter einer Wolke versteckte. Sogleich wurde es merklich kühler und er zog seine Jacke dicht an den Körper, ohne sich die Mühe zu machen, sie vernünftig zu schließen. Sein Blick glitt an dem alten Hauptgebäude entlang, das noch aus der Kaiserzeit stammte und blieb schließlich an den Kastanien hängen, die ihr frisches Grün wie ein Dach über die Fahrradständer wölbten. Dort herrschte gähnende Leere, es war Nachmittag, und der Schulhof längst verwaist.

Warum fährst du nicht nach Hause?, dachte Markus irritiert, konnte sich aber dennoch nicht dazu aufraffen, mehr zu tun als seinen Rucksack von der einen auf die andere Seite zu stellen. Ein Windhauch ließ ihn frösteln, unwillkürlich dachte er an Frankreich, wo es längst wärmer sein würde und die Sehnsucht nach dem Zuhause, das es längst nicht mehr gab, nagte an ihm. Er war jetzt schon seit vier Monaten in Berlin, wann würde es endlich besser werden?

Warum musste seine Mutter auch bloß zurück nach Deutschland ziehen!? Es hätte doch sicherlich auch Möglichkeiten in Bordeaux gegeben! Die gewohnte Umgebung hätte ihm alles erträglicher gemacht. Er hatte schon zu früh Deutschland verlassen, als dass er große Wiedersehensfreude bei der Rückkehr hätte spüren können, und die ganze Situation, die Schuld daran war, hatte ihr Übriges getan, ihm alles Nachfolgende zu verleiden. Er presste die Zähne aufeinander und spürte die Anspannung im ganzen Kiefer.

Und ausgerechnet nach Berlin, das wie eine Insel mitten in der DDR lag, wo sich jeglicher Ausflug nach Niedersachsen oder Schleswig-Holstein schwierig gestaltete, weil man gleich zwei Mal die Grenzkontrollen passieren musste. Es war kaum vorstellbar, wie das die Menschen in der DDR aushielten, die ihr Land nicht verlassen durften, wohingegen er sich bereits an dem leichten Gefühl des Eingesperrtseins störte, weil Westberlin von der – wenn auch für ihn durchlässigen – Mauer umringt war.

Der sanfte Gong der Schulglocke kündigte das Ende der achten Stunde an und es wurde Zeit, sich zu entscheiden. Er würde es nicht machen – oder doch? Warum war er die ganze Zeit hier geblieben? Unentschlossen malte er mit seinem Turnschuh einen Kreis in den Sand. Wenn er nicht hinging, wäre die ganze Warterei unnötig gewesen...

Aus den Augenwinkeln sah er einige Schüler dem Anbau zustreben, der in einem Versuch, die Schule zu vergrößern, hässlich an den alten herrschaftlichen Altbau geklatscht worden war. Sobald sie hinter der Tür verschwunden waren, wurde es wieder still auf dem Schulhof. Markus sah auf seine Uhr, die Fünfminutenpause näherte sich ihrem Ende. Er biss sich auf die Lippen.

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"Super, klasse gemacht!"

Mehr noch als über das Lob des Lehrers freute sich Markus über das zustimmende Murmeln des Ensembles. Erleichtert ließ er sich nach der Szene, die er gerade gespielt hatte, in den Sitz fallen, während der Lehrer die Theaterprobe für heute mit ein paar allgemeinen Ansagen beschloss.

Ein glückliches Grinsen breitete sich innerlich in ihm aus, ohne dass man es ihm ansah, und mit leicht entrücktem Blick an die Decke des Raumes, in dem sie geprobt hatten, spürte er die Befriedigung, die mit der Verkörperung einer Theaterrolle einher ging, und schließlich stahl sich doch ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte es vermisst – dieses Ausdrücken einer Vielzahl von Emotionen, die der Rolle, die er spielte, zugeschrieben waren und die Anerkennung der anderen Theatermitglieder.

Sie hatten ihn neugierig, vielleicht sogar mit einer gewissen Skepsis beäugt, als er so forsch und entschlossen, wie er es vermochte, eingetreten war und seine Bereitschaft verkündet hatte, die freigewordene Rolle des Mercutio zu übernehmen. Zweifel, die im Laufe der Probe immer mehr einem gefälligen Lächeln gewichen waren, als sie feststellen konnten, dass es Markus durchaus gelang, die Rolle mit Leben zu füllen und er beim Theaterspiel in seinem Element war.

Jetzt, im Nachhinein, konnte er nicht begreifen, wie er es monatelang ohne Schauspielerei ausgehalten hatte, und musste insgeheim Frau Manier recht geben: es tat ihm gut. Die Ablenkung von seiner derzeitigen Situation war vollkommen gewesen.

„Kommst du noch mit in die Pinte?"

Ein hochgewachsener, schlaksiger Schüler stand vor ihm und holte ihn aus seinen Überlegungen zurück in die Gegenwart. „Ich bin übrigens Nils."

Markus konnte sich nicht erinnern, ihn in einem seiner Kurse gesehen zu haben, vielleicht war er im Abschlussjahr oder in der Vorstufe. Nils' freundlicher, erwartungsvoller Blick ruhte auf ihm und noch überwältigt von der positiven Stimmung, in der er sich momentan befand, kam sein Nicken fast automatisch.

„Klasse."

Nils wandte sich den anderen zu und rief auffordernd in die Runde:

„Wer kommt mit in die >Pinte<"?

Zustimmendes Murmeln mischte sich in die bereits von Aufbruch geprägte Atmosphäre, mit einem lauten Knall schlug der Lehrer seine Mappe zu und stellte sich neben die Tür, das Schlüsselbund bereits in der Hand und offenbar nur darauf wartend, dass alle den Raum verließen.

„Schön, dass du zu uns gestoßen bist, Markus", rief ihm der Lehrer hinterher, als er sich zusammen mit den anderen ins Freie schlängelte, doch da er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte, enthielt Markus sich eines Kommentars. Draußen empfing sie strahlender Sonnenschein und leicht geblendet beschirmte Markus seine Augen.

„Ich habe gehört, du kommst mit?"

Conny, die Mitschülerin mit dem rötlichen, zu einem Bubikopf geschnittenen Haaren, hatte ihn angesprochen. Jetzt, da sie so nah neben ihm stand, meinte sich Markus zu erinnern, dass sie noch vor kurzem schwarze Haare gehabt hatte. Anscheinend war seine Verwunderung seinem Gesicht abzulesen gewesen, denn sie erwiderte mit einem Lachen:

„Ich weiß. So gucken alle. Ich brauchte einfach mal eine Veränderung."

Markus lächelte erleichtert zurück, er hatte sich also nicht getäuscht und ohne dass er sich vorher die Worte zurecht gelegt hatte, erwiderte er leichthin:

„Das kenne ich. Die brauchte ich wohl auch."

Und noch während er es sagte, realisierte er, dass es stimmte. Die ganze Zeit nur in der Schule oder zu Hause herum zu hocken und vergangenen Zeiten nachzutrauern, brachte ihn nicht weiter, es führte in eine Sackgasse. Was geschehen war, war geschehen, die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen und es wurde endlich Zeit, sich der Realität zu stellen: er war von nun an in Deutschland und würde es aller Voraussicht nach mindestens bis zum Abitur auch bleiben, er konnte sich bis dahin einsam durchkämpfen oder er konnte versuchen, sich die verhältnismäßige Leichtigkeit, die sein Leben bisher gekennzeichnet hatte, zurück zu holen.

„Veränderung ist das Stichwort", ließ sich nun ein anderer aus dem Grüppchen, das sich im Hof zusammengefunden hatte, vernehmen, „Auf in die Kneipe! Nach der harten Probe haben wir uns Entspannung verdient!"

Mit diesen Worten setzte sich der ganze Trupp in Bewegung und ehe Markus es sich versah, war er Teil einer Gemeinschaft, die sich in der heimeligen, gemütlichen Kneipe, die trotz ihres etwas heruntergekommenen Interieurs der übliche Treffpunkt der Oberstufenschüler war, über die vergangene Probe austauschten und sich interessiert nach seinen Theatererfahrungen an seiner früheren Schule im Speziellen und nach seinem Leben in Frankreich im Allgemein erkundigten.

Und zum ersten Mal seit langem hatte Markus wieder das Gefühl, dass ein Teil von Normalität in sein Leben zurückkehrte.


Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt