1. Juni, Susanne

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1. Juni , Susanne

Diese dämliche Geschichtsklausur. Das Thema war sterbenslangweilig und Susanne hatte hart kämpfen müssen, um sich die ganzen Inhalte einzuprägen, die sie morgen brauchte. Es gab Fächer, die sie gerne mochte, Geschichte gehörte jedoch nicht dazu. Lehrer wie Frau Weckerle, mit ihrem bayerischen Akzent, gehörten ihrer Ansicht nach verboten. Sie war so farblos wie ihr Unterricht langweilig war und das einzig Unterhaltsame waren dann tatsächlich nur hin und wieder ihre bayerischen Ausdrücke wie Herrgott sakra, wenn es gar zu laut in der Klasse wurde oder die bayerisch eingefärbte Ausdrucksweise.

Jetzt aber war es geschafft und Susanne hatte sich ganz hinten in den Garten begeben, wo die krumme Birke stand, auf der sie es sich bequem gemacht hatte. Die Sonne hatte den Stamm angewärmt und seit Jahren stand er so, dass man sich gemütlich darauf setzen und den Kopf an den sich wieder gen Himmel neigenden Stamm anlehnen konnte. Mit der Hand fuhr Susanne gedankenverloren die borkige Rinde entlang, während ihr Blick sich im Geäst der sanft schwankenden Zweige vor einem blassblauen Himmel verlor.

Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken wieder hin zu dem Jungen, den sie vor kurzem bei der Theateraufführung gesehen hatte. Es war ja wirklich bescheuert, aber er ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Und heute hatte sie ihn erneut gesehen, denn während sie beim Eismann auf ihre Schwester gewartet hatte – und sich wohlweislich bereits einen Tisch im Garten gesichert hatte – war ihr Blick durch die Hecke hindurch auf die Bushaltestelle gefallen. Und da hatte er gestanden, die Hände nachlässig in den Hosentaschen, den Blick in die Ferne gerichtet. Auch in Alltagskleidung gefiel er ihr weiterhin ausnehmend gut.

Sie hatte beobachtet, wie er an seiner Frisur herum gezupft hatte, während er annehmen musste, unbeobachtet zu sein. Mit wachsender Ungeduld war er zum Fahrplan gegangen und hatte schließlich frustriert einen auf dem Weg liegenden Zweig von sich gekickt. Dann hatte er eingehend die Werbung an der Haltestelle studiert und anschließend in einer genervten Bewegung den Kopf in den Nacken geworfen. Susanne hatte genau verstanden, was in ihm vorgegangen sein musste; ihr ging es oft ähnlich. Manchmal war sie kurz davor, aus Frust auf unverständliche Verspätungen aggressiv gegen das Wartehäuschen zu treten. Was sie natürlich nie tat, aber der Gedanke daran tat schon gut.

Sie hatte beobachtet, wie er die Nase krauste, herzhaft gähnte und die Fingerspitzen aneinander klopfte. Sein Haar war im Nacken und an den Seiten kurz geschnitten und ansonsten mit Gel in Form gebracht gewesen. Susanne hatte vergeblich auf ein Lächeln in seinem Gesicht gehofft und schließlich war der Bus gekommen und er im Nu außer Sicht gewesen. Und dann war Kathi aufgetaucht und Susanne hatte ihr beim Eisessen schließlich ihr Herz ausgeschüttet, woraufhin Kathi preisgegeben hatte, was sie über ihren Schulkameraden wusste. Viel war es nicht gewesen. Er hieß Markus, ging in die zwölfte Klasse, war mitten im Jahr in den Kurs gekommen, weil er von Frankreich nach Berlin gezogen war. Den Grund wusste Kathi aber nicht.

Susanne schlug ein Bein über das andere, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und dachte darüber nach, warum jemand während des Schuljahres umzog. Vielleicht war der Vater beruflich versetzt worden. Oder die Mutter. Warum hatte er überhaupt in Frankreich gelebt? Einen französischen Akzent hatte sie bei der Theateraufführung nicht gehört und er trug einen deutschen Namen. Möglicherweise war einer seiner Eltern Franzose? Das war schon irgendwie etwas Besonderes und steigerte noch ihr Interesse an ihm. Susanne mochte Französisch, mochte Frankreich und wäre zu gern noch ein zweites Mal dorthin gefahren. Mit Bedauern dachte sie daran, dass der Besuch der Camargue nun schon über ein Jahr her war. Fünf Tage hatten sie dort verbracht, klasse war das gewesen, die wilden Pferde, die leckeren Gerichte....

Wie ein Schwamm hatte sie den französischen Akzent beim Gebrauch der Fremdsprache aufgenommen, als hätte sie ihr Leben lang nichts anderes getan, etwas, worüber Kathi immer wieder staunte, denn sie selbst kam über den harten deutschen Klang beim Französischsprechen nicht hinaus. Susanne seufzte, zu gern wäre sie auch einmal nach Paris gefahren...vielleicht nächstes Jahr in der Oberstufe mit dem Französisch-Leistungskurs. Sie schloss die Augen und begann vor sich hin zu träumen...

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt