3. Mai, Markus

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3. Mai, Markus

Er schloss gerade die Haustür auf, als ihn seine Mutter schon mit der aufgeregten Frage empfing: „Hast du Ines gesehen???"

„Nee, wieso? Ich komme gerade von der Theater-AG." Er war kurz davor, die Jacke auf den Boden segeln zu lassen, unterließ es aber nach einem Seitenblick auf seine Mutter, die einen aufgelösten Eindruck machte, und hängte sie stattdessen ordentlich an den Haken. „Was iss'n?"

Seine Mutter rang nervös die Hände. „Euer Vater hat angerufen. Danach haben wir uns gestritten und da ist sie wegelaufen. Vor eineinhalb Stunden schon! Ich hatte gehofft, sie wäre zu dir in die Schule gefahren."

Markus warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach neun Uhr, nicht wirklich eine Zeit, um als kleines Mädchen draußen alleine herumzulaufen. Und dass er um diese Zeit auch nicht mehr in der Schule, sondern mit Freunden noch etwas trinken gewesen war, hätte auch seiner Mutter klar sein müssen. Aber beides behielt er für sich und versuchte stattdessen, seine Mutter zu beruhigen.

„Mama, sie ist doch schon dreizehn."

„Ja, aber Berlin ist groß und doch immer noch neu für sie..."

Sie wohnten schon seit fünf Monaten hier, aber das war jetzt definitiv nicht der richtige Zeitpunkt zu widersprechen. Seine Mutter versuchte mühsam, sich zu beherrschen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr eine Träne aus den Augen rollte.

„Hast du schon ihre Freundinnen angerufen?", wollte er wissen.

„Natürlich!", schniefte sie. „Da ist sie aber nicht. Und ihr Rad ist nicht da. Und es wird dunkel", setzte sie mit beginnender Panik in der Stimme hinzu.

Eine Gelassenheit vortäuschend, die er gar nicht besaß, schlug Markus vor:

„Ich fahre mal in der Gegend herum und halte nach ihr Ausschau, okay?"

Er wartete die Antwort seiner Mutter gar nicht erst ab, sondern schnappte sich wieder seine Jacke und war schon an der Tür, als sie noch hinterher rief:

„Sei um zehn Uhr bitte wieder hier, damit ich mir nicht auch noch um dich Sorgen machen muss..." Ihre Stimme brach.

Markus warf ihr noch einen, wie er hoffte, beruhigenden Blick zu und dann war er draußen, schloss sein Rad wieder auf und radelte los. Seine Schwester war bestimmt aufgelöst gewesen, wie immer nach einem Streit, in dem es vermutlich wieder um die Trennung ihrer Eltern gegangen war. Sie kam damit überhaupt nicht klar. Auch er hätte auf diesen Bruch des Familienlebens selbstredend verzichten können. Aber abgesehen davon konnte er die Entscheidung ihrer Mutter gut verstehen, auch wenn er mit den Folgen noch immer haderte.

Während er seinen Blick nach links und rechts schweifen ließ, überlegte er, wohin es sie getrieben haben konnte. Sie hatte das Rad genommen, also wollte sie wahrscheinlich weiter weg... Er fuhr daher zur S-Bahn und hatte Glück, bei den zwei Rädern, die dort verloren herum standen, war eines davon das von Ines. Konnte es sein, dass sie zum Hauptbahnhof gefahren war? Aber sie konnte wohl ja nicht vorhaben, nach Frankreich zu fahren, oder?

Beunruhigt rannte er auf den Bahnsteig, wo er den Zug schon einfahren hörte. Keuchend sprang er durch die sich gerade schließenden Türen und rieb sich die schmerzenden Rippen. Wo sollte er am Hauptbahnhof bloß suchen, der war ja groß... In seiner Ungeduld dauerte die Fahrzeit zum Bahnhof Zoo viel länger als sonst. Im grellen Licht der Bahnhofsbeleuchtung schritt er mit hastigen Schritten zu der Anzeige der abfahrenden Züge, die er mit pochendem Herzen studierte, es gab jedoch keinen Zug nach Frankreich. Ratlos fragte Markus sich, ob seine kleine Schwester auch einen indirekten Weg über Frankfurt wählen würde. Aber wahrscheinlich war er hier sowieso falsch, bestimmt – hoffentlich! – war Ines längst wieder zu Hause.

Dennoch ging er noch zum Auskunftsschalter der Bahn und erkundigte sich, ob es kürzlich einen Zug nach Frankreich gegeben hatte. Der Herr am Schalter raschelte mit seinem Fahrplanheft und bestätigte dann freundlich lächelnd, dass ein Zug nach Paris vor 20 Minuten von Gleis 18 abgefahren war. Markus erschrak und das Herz sackte ihm gleich einige Etagen tiefer. Das kann jetzt nicht sein, dachte er wild, wandte sich brüsk ohne ein Wort des Dankes um und wandte sich wie ferngesteuert dem Bahnsteig zu, als könne man dort noch den zurückgebliebenen Hauch von Ines wahrnehmen. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen und wischte sie ärgerlich fort, denn sicher, ganz bestimmt, verrannte er sich hier in etwas. Diese fixe Idee hatte er doch nur, weil er selbst sich öfters nach Frankreich zurücksehnte.

Da saß jemand zusammengekauert auf der Bank am Beginn des Bahnsteiges...

„Ines!" brüllte Markus und rannte auf sie zu.

Mit tränenverschmiertem Gesicht sah seine Schwester zu ihm hoch, Überraschung und Erleichterung malte sich auf ihrer Miene, und dann sprang sie auf und warf sich in seine Arme, umklammerte ihn, wie sie es seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Markus hielt sie fest und strich ihr unbeholfen über die Haare.

Er war wahnsinnig erleichtert und wartete geduldig, bis Ines sich nach einigen Minuten entwand. Es war ein scheuer, verlegener Blick, den sie ihm dann von der Seite zuwarf, bis sie geräuschvoll die Nase hochzog. Markus suchte in seinen Taschen vergeblich nach einem Taschentuch und zuckte dann entschuldigend mit den Schultern. Sie sahen sich einen Moment schweigend an.

„Tu voulais vraiment aller en France?" fragte Markus schließlich leise. Er konnte es sich immer noch kaum vorstellen, dass Ines wirklich nach Frankreich gewollt hatte.

Ines nickte. „Mais je n'avais pas de passeport. C'est pourquoi je suis restée ici..." Sie verstummte und starrte auf ihre Schuhe.

Markus war ungemein froh darüber, dass Ines ihren Reisepass nicht bei sich gehabt hatte und daher geblieben war. Am besten riefen sie jetzt schnellstens ihre Mutter an, dachte er und schlug daher Entsprechendes vor.

„On va déja appeler Maman!"

Erlegte den Arm um seine Schwester und führte sie vom Bahnsteig fort. Sie quetschten sich in eine Telefonzelle und Markus kramte in seinem Portemonnaie nach Münzen.

Ihre Mutter war sofort am Telefon, ein atemloses „Ja???!" herauspressend.

„Ich hab sie gefunden", verkündete Markus und ihr lauter Stoßseufzer war in der ganzen Telefonzelle zu hören.

Ines verlangte nach dem Telefonhörer und bedeutete ihrem Bruder mit den Augen, die Zelle zu verlassen. Das kleinlaute „Tut mir leid, Mama..." war das Letzte, das er hörte, bevor die schwere Tür in den Rahmen fiel.

Er lehnte sich gegen die Telefonzelle und betrachtete die Reisenden, die entschiedenen Schrittes ihren Zielen entgegen strebten. „Welch ein Glück, dass Ines nicht gefahren war! Markus seufzte. Es wäre besser, jemand würde ihr mal reinen Wein einschenken, dachte er. Ärger kochte in ihm hoch, wenn er daran dachte, dass sein Vater an allem die Schuld trug. Auch daran, dass er und seine Mutter sich heute solche Sorgen um Ines machen mussten. Die Bewegung der Tür ließ ihn herumfahren. Ines kam herausgetrippelt, aber sie lächelte.

„Fahren wir nach Hause?" wollte Markus wissen und erntete ein Nicken. Wortlos nahm er seiner Schwester den Rucksack ab und fragte dann:„Was wolltest du denn überhaupt bei Papa und seiner französischen Frau?"

„Ich wollte ja nur zu Papa", erklärte Ines ungewohnt kleinmütig und gab zu, dass sie über alles Weitere gar nicht nachgedacht hatte. „Aber ich wollte das ja nicht wirklich", betonte sie schließlich und fügte leichthin an: „Ich wäre auch mit Fahrkarte nicht gefahren. Jedenfalls nicht ganz bis Frankreich. Ich wäre vorher umgekehrt."

„Ja, an der DDR-Grenze wahrscheinlich, so ganz ohne Papiere", gab Markus amüsiert zurück. Wie rasch sie doch wieder die Alte war. Ines warf ihm einen schnellen Blick zu.

„Na ja, bei Mama und dir ist es ja doch besser", kam es hastig und dann richtete sie den Blick nach vorne und wies auf die einfahrende S-Bahn: „Schnell, da ist unsere Bahn!"

Sekunden später war sie losgerannt und Markus folgte ihr hastig.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt