11. November, Susanne

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Sie hatte Markus gestern nicht mehr gefunden, hatte ihn auch telefonisch nicht erreicht und musste daher davon ausgehen, dass er sich irgendwo in der Stadt befand, dort, wo es alle hingezog, was sie ein wenig verstimmte – hätte er sich nicht bei ihr melden können? Nur um kurz darauf einsichtig zu erkennen, dass das Zeitfenster, in dem Markus sie zu Hause hätte erreichen können, denkbar klein gewesen war, und mit einem Schulterzucken hatte sie sich schließlich damit abgefunden, die ersten Stunden dieser unvorstellbaren Entwicklung zusammen mit Kathi und ihrer Mutter zu erleben.

Es war eine unglaubliche, euphorisierende Stimmung gewesen, der Ku'damm und die Geschäfte voller Menschen, die Schlangen vor den Banken, bei denen sich die Leute aus der DDR ihr Begrüßungsgeld abholten. Überall hatte es nur strahlende Gesichter gegeben und es war schlichtweg nicht möglich gewesen, demgegenüber eine Niedergeschlagenheit an den Tag zu legen. Sie hätte diese Augenblicke zu gern mit Markus geteilt, aber hatte sich damit getröstet, dass auch das Wochenende ihnen noch eine Chance geben würde, zusammen mitzuerleben, wie in Berlin Geschichte geschrieben wurde.

Nachmittags war sie mit Kathi zusammen in die DDR gefahren, um Sascha abzuholen und gemeinsam waren sie mit ihm durch das Amüsierviertel am Nollendorfplatz gezogen. Immer mal wieder hatte sie zwischendurch versucht, Markus telefonisch zu erreichen, doch ein Freizeichen war alles gewesen, was ihr entgegen tutete.

Es war dann spät geworden und so hatte Susanne heute ungewöhnlich lange geschlafen, aber als sie dann um 9.30 Uhr die Augen aufschlug, war Markus der Erste, an den sie dachte, gut gelaunt sprang sie aus dem Bett und hüpfte sogleich zum Telefon. Sie waren heute ohnehin verabredet, von daher würde sie ihn heute endlich erreichen können.

Sie wählte die Nummer, die sie auswendig wusste, und wippte fröhlich auf ihren Zehenspitzen.

„Hallo, hier ist Susanne", meldete sie sich aufgekratzt, als sie die Stimme von Markus' Mutter vernahm.

Diese klang jedoch alles andere als erfreut, Susanne am Telefon zu haben, ausgesprochen kühl gab sie von sich:

„Markus möchte leider nicht mit dir sprechen. Tut mir leid."

Mit diesen Worten legte Frau Bruhn auf. Wie vom Donner gerührt stand Susanne da und starrte fassungslos auf den Telefonhörer in ihrer Hand. Sie schüttelte verwirrt den Kopf, überzeugt davon, dass seine Mutter sie mit jemandem verwechselt haben musste. Nervös wählte sie erneut, aber dieses Mal ging keiner ans Telefon, obwohl sie es lange klingeln ließ. Das konnte doch nicht sein, dass sowohl Markus als auch seine Mutter nicht mit ihr sprechen wollten! Sie biss sich auf die Lippen und schluckte mit einem Rest von Beherrschung die aufkommenden Tränen hinunter.

„Na, Spatz?"

Ihr Vater kam ihr lächelnd im Flur entgegen, sah dann ihr Gesicht und blieb sofort stehen.

„Was ist los?", wollte er wissen und berührte sie sachte an den Schultern.

Susanne ließ verzweifelt den Kopf hängen.

„Ich hatte eben die Mutter von Markus am Telefon. Sie hat gesagt, Markus will nicht mit mir reden..."

Der Rest des Satzes ging in aufsteigenden Tränen unter.

„Ist zwischen euch etwas vorgefallen?"

Ihr Vater hob ihr Kinn an, so dass sie ihm ihr Gesicht zuwenden musste. Susanne schüttelte den Kopf.

„Na, dann kann es sich ja nur um ein Missverständnis handeln", gab er beruhigend von sich, „Du wirst sehen, das klärt sich schnell."

Er nickte ihr noch einmal aufmunternd zu und verschwand im Wohnzimmer.

Susanne war sich da jedoch nicht so sicher. Denn dass auch Frau Bruhn sich einem Gespräch mit ihr zu verweigern schien, ließ nichts Gutes ahnen. Ratlos sah sie hoch in den ersten Stock, aber Kathi befand sich im siebten Himmel, jetzt wo sie und Sascha sich endlich jederzeit sehen konnten. Susanne wollte sie daher jetzt nicht mit ihren Sorgen behelligen und rief stattdessen Maike an.

„Das ist ja komisch", kommentierte diese, vermutete aber auch eine Verwechslung.

„Wann habt ihr euch denn zuletzt gesehen?"

„Na ja, am Dienstagabend halt", erwiderte Susanne, „Wir waren im Kino. Da war alles okay."

„Und bei Kathi in der Schule...?", begann Maike vorsichtig, denn das war weiterhin ein heikles Thema zwischen ihnen.

Susanne schniefte. „Nichts. Das hätte mir doch Kathi sonst auch erzählt."

„Vielleicht hat er es irgendwie herausbekommen...?"

Dieser Gedanke ließ sich nicht ganz von der Hand weisen, doch schnell verwarf Susanne diese Überlegung. Außer ihr und ihrer Schwester und natürlich Maike wussten nur Nicki und Biggi Bescheid und für die würde Kathi ihre Hand ins Feuer legen.

„Nee, das hätte er mir doch gesagt..." widersprach Susanne dann auch, überzeugt davon, dass Markus damit nicht hinter dem Berg gehalten hätte.

„Komisch...", wiederholte Maike und bot schließlich an:

„Willst du zum Quatschen vorbeikommen?"

Susanne schüttelte den Kopf, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Freundin das ja nicht sehen konnte, und erklärte: „Ich versuche erst noch einmal, ihn anzurufen."

„Mach das", ermunterte ihre Freundin, „...und sonst meldest du dich."

„Okay", nickte Susanne und wählte erneut Markus' Nummer, inständig hoffend, dass dieser Anruf anders verlaufen würde als die beiden vorherigen. Jetzt war es Ines, die den Hörer abnahm.

„Hi Ines, hier ist Sanne...", begann Susanne mit betonter Fröhlichkeit, „Kann ich....".

Weiter kam sie nicht.

„Dass du dich noch traust, hier anzurufen! Ich hätte nie gedacht, dass du so schäbig bist!"

Die geballte Empörung und Wut von Markus' kleiner Schwester schlug Susanne ungebremst aus dem Telefon entgegen.

„Ich habe doch gar nichts..." versuchte Susanne hilflos zu klären, während sich ihr beinahe die Kehle zuschnürte. Hatte Markus etwa doch etwas erfahren? Doch ihr Widerspruch schien Ines nur noch mehr gegen Susanne aufzubringen.

„Einen anderen zu küssen nennst du nichts!!!? Pech für dich, dass dein DDR-Freund jetzt hier im Westen auftauchen kann", kam es sarkastisch aus dem Hörer und aggressiv ergänzte Ines schließlich noch:

„Lass meinen Bruder in Ruhe! Und uns auch!"

Dann legte sie auf.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Susanne die Tragweite des Gehörten begriffen hatte. Dann begann sie unkontrolliert zu zittern, sackte an der Wand entlang auf den Fußboden und vergrub den Kopf in ihren Händen.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt