15. Mai, Susanne

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15. Mai, Susanne

„Die Pest auf beide eure Häuser!" Mit dieser dramatischen Verwünschung und dem Tod des der sie mit letztem Atemzug hervorstoßenden Worte des Edelmannes endete die Szene. Susanne fand dies schade. Zwar war Mercutio nur eine Nebenfigur dieses Stückes, aber eine, die ihr ausnehmend gut gefiel und das nicht wegen ihrer Rolle, sondern wegen des sie verkörpernden Schauspielers, ein großer, blonder Typ mit attraktiven Gesichtszügen.

Sie lehnte sich zu ihrer Schwester hinüber und wisperte: „Wer war das, der den Mercutio gespielt hatte?"

Kathi zuckte mit den Schultern. „Jemand aus der Zwölften. Der ist in diesem langweiligen Philosophie-Kurs mit mir. Markus oder so. Warum?"

Susanne blieb ihr die Antwort schuldig und erbat sich von ihrer Mutter den Zettel mit den Angaben zu den Schauspielern und studierte ihn intensiv. Da stand es, Mercutio, gespielt von Markus Bruhn, 2. Semester. Der Rest des Theaterstückes floss an ihr vorbei, ohne dass sie sich groß auf die Handlung konzentrierte.

Stattdessen widmete sie sich der Analyse ihrer Gedanken. Sein Äußeres gefiel ihr, na und? Diverse Jungen sahen gut aus, aber nicht alle waren auch sympathisch. Wie hoch war die Chance, dass er ein arroganter Mistkerl war? Er hatte toll gespielt, ohne Frage, und vielleicht hatte ihr einfach die Rolle des Mercutio gefallen, die er so gut verkörpern konnte. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie gern gewusst hätte, wie er tatsächlich war, ohne dass er eine Theaterrolle spielte. Und schüttelte gleich darauf den Kopf. Es war doch ohnehin egal. Er ging auf die Schule ihrer Schwester und von daher würde sie ihn sowieso nie wieder sehen. Und außerdem war er bestimmt schon vergeben.

Der Pausenapplaus riss sie aus ihren Gedanken. Langsam leerten sich die Stuhlreihen und Susanne und ihre Familie warteten brav, bis sie aus ihrer Reihe heraustreten konnten.

„Wie wäre es mit einem Kaffee?", fragte ihr Vater.

Während ihre Mutter lächelnd nickte, antwortete Kathi keck:

„Ja, ein Cappuccino mit Schuss, bitte."

Ihr Vater zog die Augenbrauen hoch: „Vielleicht noch ein Cocktail anschließend?"

„Coole Idee!" Kathi kicherte und hängte sich bei ihrem Vater ein, weil sie endlich die Sitzreihe verlassen hatten.

„Ich schlage vor, ihr holt uns allen je eine Portion Waffeln, und wir starten schon mal mit dem Kaffee."

„Waffeln hört sich gut an." Susanne gab ihrer Schwester einen aufmunternden Rippenstoß und sang leise: „Waffles in the air..."

Kathi lenkte ein und dann reihten sie sich in die Warteschlange ein, während die Eltern in Richtung Kaffeeausschank wanderten. Kathi winkte einem Klassenkameraden, den sie erspäht hatte:„Hej, Nils!"

Er hatte ebenfalls mitgespielt, wie man an der Kleidung sah, aber Susanne wusste nicht mehr, in welcher Rolle. „Hi Kathi", rief er lässig aus der Schlange für Getränke auf der gegenüberliegenden Seite des Flures, in die er sich mit seinen Begleitern eingereiht hatte, zurück.

Ein tuschelndes Erwachsenenpärchen verließ den Platz vor dem Getränkestand und gab den Blick auf die übrigen Mitglieder des Theaterensembles frei, gleichzeitig drehte sich einer von ihnen um und sah zu ihnen hinüber. Susannes Herz schlug auf einmal schneller. Da war er, Mercutio, noch immer in den kleidsamen grün-goldenen Stoff eines Edelmannes aus Verona gehüllt, obwohl sein Part im Theaterstück durch den dramatischen Tod seiner Rolle längst beendet war.

Er lächelte zu ihr hinüber, aber halt, nein, es war ihre Schwester, die er in den Blick genommen hatte. Kathi mit den offenen blonden Locken, der schicken neuen Bluse und der engen Jeans. Verdammt, warum hatte sie nur die Karobluse angezogen, einen Pferdeschwanz gebunden und wieder ihr Baseballcap aufgesetzt? Was sie vorhin noch sportlich gefunden hatte, kam ihr nun langweilig vor.

Verstohlen beobachtete sie Mercutio, der seinerseits unverwandt zu Kathi hinüber lächelte, bis diese es wahrnahm und höflich zurücklächelte. Dann wurden offenbar drüben die Getränke gereicht, Mercutio wandte sich wieder um und gemeinsam ging die Gruppe zurück zur Bühne. Susanne durchlief es heiß und kalt, halb wünschte sie, er wäre herübergekommen, halb war sie froh, dass er es nicht getan hatte. Aber er schien offenbar an Kathi interessiert...

„Der Typ von der Bühne hat dich mit den Augen verschlungen" sagte sie und wunderte sich, wie normal ihre Stimme klang.

Kathi zuckte mit den Schultern.

„Soll er", erwiderte sie leichthin, ohne zu merken, was in ihrer Schwester vorging, „...ich bin mehr an einem gewissen Typen aus Ostberlin interessiert."

Ungeduldig klopfte sie mit der Fußspitze auf den Boden.

„Wenn das so weiter geht, fängt das Theaterstück an, und wir stehen immer noch hier", nörgelte sie und reckte den Hals, um ihre Eltern an den Bistrotischen neben dem Kaffeeausschank zu erspähen.

Susanne hörte nur mit halbem Ohr hin, denn sie war in Gedanken noch immer bei Mercutio. Okay, er stand auf ihre Schwester, die aber schon vergeben war, und er ging auf das Lessing-Gymnasium, aber man konnte ja träumen...

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Herzklopfen, aber zu wenig Selbstbewusstein - wer kennt das nicht? ;)


Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt