6. April, Susanne

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6. April, Susanne

„N'Abend, alle zusammen", kam es leutselig von der Tür.

Susanne sah überrascht von ihrem Physikbuch auf, beugte sich zur Seite und linste in den Flur hinüber, aus dem man das hölzerne Klappern hörte, das entstand, wenn man die Bügel an die Garderobe hängte.

„Schaut mal, wen ich mitgebracht habe".

Susanne konnte das Strahlen in den Worten ihres Vaters quasi hören, zu sehen bekam sie ihn jedoch nicht, da er vermutlich gleich in die Küche gegangen war, um ihre Mutter zu begrüßen. Dafür steckte nun ihr Opa sein Gesicht ins Wohnzimmer und schob seinen etwas fülligen Körper hinterher.

„Da ist ja mein Katrinchen", tönte er fröhlich und zog sie in seine Umarmung.

Seine Enkelin zog ihre Augenbrauen hoch, aber so, dass er es nicht sehen konnte. Es war nicht das erste Mal und es würde nicht das letzte Mal sein, dass er sie mit ihrer Zwillingsschwester verwechselte. Aber sie nahm es ihm nicht übel; die meisten Menschen um sie herum wussten nicht, welchen Zwilling sie vor sich hatten, wenn sie nur auf einen trafen, und konnten sie üblicherweise auch dann nicht auseinander halten, wenn sie nebeneinander standen.

„Ich bin Sanne, Opa", korrigierte sie daher nur milde, als er sie losgelassen hatte, woraufhin ihr Opa angelegentlich an seiner Brille zupfte und dann unbeeindruckt nicht weniger fröhlich von sich gab:

„Na, da ist ja mein Susannchen."

Sie verkniff sich ein Kichern. Opa ließ sich in einen Stuhl fallen, neigte den Kopf und schaute interessiert auf ihr Schulbuch hinunter, während aus der Küche eine unmissverständliche Aufforderung kam:

„Sanne, räumst du bitte mal den Tisch frei?! Wir wollen essen."

„Liebend gern", murmelte Susanne wahrheitswidrig und verstaute mit den an ihren Opa gewandten Worten „Physik, dämliches Fach" ihre Schulsachen in den Rucksack, der nachlässig neben ihr auf dem Boden lag.

„Lass das mal nicht deinen Papa hören...", konterte Opa.

„Wusste gar nicht, dass du heute kommst". Susannes Stimme klang gedämpft, weil sie in Richtung Rucksack sprach.

„Helmut hat mich in der Stadt entdeckt und mich postwendend zum Essen eingeladen", erläuterte ihr Opa frohgemut. Was er sicherlich nur zu gerne angenommen hatte, denn Oma war zurzeit auf Besuch in Heide an der Nordsee, dachte Susanne und winkte ihrem Vater zu, der mit Geschirr beladen ins Wohnzimmer trat und rasch Teller und Besteck verteilte.

„Na, Lesemaus" begrüßte er sie dabei und Susanne war froh, dass er die Hände voll zu tun hatte, sonst hätte er ihr bestimmt übers Haar gestrichen, was er leider öfter mal tat und was sie hasste. Aber immerhin kannte er sie gut genug, um sie nicht zu verwechseln.

„Ist Kathi schon aus Ostberlin zurück?", kam anschließend die Frage nach ihrem Zwilling – bei der der volle Name aus Praktikabilitätsgründen schon vor Jahren der Kurzform „Kathi" zum Opfer gefallen war – so wie aus „Susanne" „Sanne" geworden war. Allein von Kathi wurde sie „Susi" genannt, Privileg der Schwester und Zeichen inniger Verbundenheit.

„Vor 'ner Viertelstunde oder so... ich hole sie mal zum Essen."

Wenige Minuten später saß die ganze Familie Diekmann beim warmen Abendessen.

„Wie war denn euer Ausflug?", erkundigte sich ihre Mutter und füllte die Teller.

„Schön", kam Kathis knappe Antwort, ohne mehr preiszugeben, während sie lächelnd ihre Augen auf den Teller gerichtet hielt. Susanne warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. Irgendetwas musste wohl vorgefallen sein...

„Ist nicht so spannend drüben, was?", schaltete sich ihr Vater ein und sah neugierig zu seiner Tochter hinüber.

„Nee, nicht so", nuschelte Katharina nur und ließ sich nicht aus der Reserve locken.

Die Eltern drangen nicht weiter in sie und begannen sich mit Opa über irgendetwas von Papas Arbeit zu unterhalten, das Susanne kein bisschen interessierte. Sie gab ihrer Schwester einen leichten Rippenstoß. Kathis Lächeln vertiefte sich, sie erwiderte kurz Susannes Blick und flüsterte hastig: „Später."

Susanne lehnte sich im Stuhl zurück und wartete gelangweilt darauf, dass alle mit dem Essen fertig wurden. Die Physikaufgabe kam ihr in den Sinn und sie zog eine Grimasse. Vielleicht konnte ihre Freundin Maike ihr nachher helfen. Schließlich waren alle Teller  leer gegessen und die Schwestern fanden sich nach dem Abräumen allein in der Küche wieder, denn sie waren mit dem Abwasch dran.

„Wieso haben wir bloß keine Geschirrspülmaschine", maulte Susanne und ließ Wasser in die Spüle laufen. Das Spülmittel goss sie gleich mit dazu und beobachtete, wie sich dadurch ein Schaumberg türmte.

„Echt blöd", kommentierte Katharina, auf einmal wieder voll anwesend. „Dadurch habe ich gleich den ganzen Schaum am Geschirr."

Susanne zog es vor, das nicht zu kommentieren und fragte stattdessen erwartungsvoll: „Erzähl, was ist passiert?"

Kathi schwieg erst einmal und lächelte wieder versonnen. Es war zum Verrücktwerden.

„Ka-tha-ri-na!", wurde Susanne dann energisch und betonte zur Verstärkung jede einzelne Silbe.

Kathi schnappte sich ein Geschirrhandtuch und enthüllte dann mit einem Lächeln: „Ich glaube, ich hab mich in jemanden verguckt..."

„Wie, heute? In wen?" Susanne war überrascht, eigentlich fand Kathi die Jungs in ihrer Klasse alle doof.

Kathi las offenbar Susannes Gedanken, denn sie entgegnete sofort:„Nicht aus der Klasse! In einen Typen von drüben."

Susannes erste Reaktion, die sie wohlweißlich für sich behielt, war ein „Ach herrje!" Sich in jemanden aus der DDR zu verlieben brachte mit Sicherheit verdammt viele Schwierigkeiten mit sich. Sie begnügte sich mit einem vorsichtigen „Im Ernst?"

Kathi nickte einige Male bestätigend und grinste verschmitzt: „Du, der war total süß..." Und dann strahlte ihr ganzes Gesicht: „Und er will mich wiedersehen." Sie zog einen sorgsam gefalteten Zettel aus der Hosentasche und reichte ihn Susanne, die ihn neugierig las.

„Wow, das ist ja was...", zeigte sie sich beeindruckt. „Aber wie....?"

Und während das Spülwasser langsam kühl wurde, berichtete Kathi mit leuchtenden Augen von ihren letzten Stunden in Ostberlin.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt