23. April, Kathi

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Kathi

Am Strand des Müggelsees, der größer war, als ich gedacht hatte, gingen wir zum Bootsverleih hinüber.

"Leider kann ich dir heute nur ein Ruderboot bieten", gestand Alexander und machte das Finanzielle mit dem Vermieter klar, bevor ich auch nur dazu kam, mein Portemonnaie hervorzuholen. Meine Hand, die eben noch geborgen in Alexanders Hand geruht hatte, fühlte sich merkwürdig einsam an, als er sie nun loslassen musste.

„Hier." Einladend wies Alexander auf ein grünes Ruderboot und hieß mich zuerst einsteigen. Es schaukelte kräftig, als ich mich auf einer Seite niederließ. Dann war auch Alexander zugestiegen und stieß uns mit kräftigen Stößen vom Ufer fort.

„Hast du wirklich ein Segelboot?", wollte ich neugierig wissen.

„Wer weiß..." tat er geheimnisvoll und zwinkerte mir zu. Dann ruderte er uns mit kräftigem Ruderschlag mitten auf den See. Es war deutlich, dass er hier in seinem Element war.

„Sag doch mal", forderte ich auf, während mir gleichzeitig der Gedanke durch den Kopf ging, dass man vielleicht in der DDR gar kein Boot besitzen durfte. Den Teufel würde ich tun und das direkt fragen. „Du hattest so begeistert erzählt."

Alexander schmunzelte und fragte: „Warum ist das wichtig? Wärest du sonst nicht gekommen?"

„Doch, natürlich!" Ich versetzte ihm einen spielerischen Tritt gegen's Schienbein. Als Antwort schaufelte er frech grinsend mit dem Ruderblatt Wasser in meine Richtung, dem ich geschickt zur Seite aus wich.

„Gute Reflexe", lobte er und wollte wissen: „Treibst du Sport?"

Ich erzählte vom Handball, den ich seit vier Jahren betrieb, vom Training und von Wettkämpfen. Die Sonne schien warm auf uns herunter und ich lehnte mich entspannt gegen den Rand des Bootes. Alexander wechselte ein wenig die Richtung und hatte die Sonne jetzt direkt im Gesicht, so dass er fast ganz die Augen schloss, um nicht geblendet zu werden.

Das gab mir die Gelegenheit, ihn eingehend zu betrachten. Sein dunkles Haar glänzte und ein leichter Wind zerzauste seinen Schopf. Er trug das Haar ein wenig länger als andere Jungs, aber es gefiel mir. Mein Blick blieb an seiner Himmelfahrtsnase hängen, die so gar nicht zu seinen ansonsten markanten Gesichtszügen passte. Sie verlieh ihnen einen frechen Ausdruck. Ich schmunzelte leicht über diese Diskrepanz.

„Was lächelst du?", wollte Alexander wissen und blinzelte gegen die Sonne an.

„Nichts", gab ich zurück und schwieg für einen Moment, während ich das Spiel seiner Muskeln beim Rudern beobachtete. Der Typ gefiel mir echt wahnsinnig gut und ich bereute nicht eine Sekunde, dass ich hierhergekommen war. Kein Gedanke mehr an die Nervosität, die ich anfangs empfunden hatte, obwohl ich mein Bestes getan hatte, sie zu überspielen. Ich fühlte mich stattdessen so wohl in seiner Gegenwart, dass ich das Gefühl hatte, vor Glück zu bersten; es war egal, ob wir zusammen lachten, uns unterhielten oder wie jetzt einfach nur entspannt schwiegen und ich verdrängte erfolgreich die Tatsache, dass eine unüberwindbare Mauer unsere beiden Länder voneinander trennte.

Inzwischen waren wir in einem Seitenarm des Sees gelandet, der links und rechts von hohen Bäumen gesäumt war.

„Zeit für eine Pause", verkündete Alexander und verlangsamte das Tempo. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als dächte er an etwas Schönes.

„Was machst du denn an den Wochenenden, wenn du nicht fürs Abi lernst?", erkundigte ich mich.

„Ein schönes Mädchen über den Müggelsee rudern", versetzte Alexander scherzend, aber an dem Blick, mit dem er mich ansah, erkannte ich, dass er es ernst meinte. Ich spürte, wie meine Wangen warm wurden. Alexander ruderte nunmehr langsam den Fluss entlang und fuhr fort: „Wenn ich nicht mit Freunden losziehe, gehe ich tatsächlich segeln. Und, ja, ich habe eine Jolle. Drüben, auf der Havel, in Potsdam."

In mir frohlockte es, sicher war dann mal ein Segeltörn drin. „Könnte ich da mal mit hin?", fragte ich aufgeregt.

Alexander warf mir einen bedauernden Blick zu:"Ich glaube, das geht nicht. Deine Einreiseerlaubnis gilt doch nur für Berlin, oder?"

Mist, das stimmte natürlich! Ich verzog frustriert das Gesicht. Diese dämliche Politik und diese bescheuerte Mauer. Impulsiv fragte ich dann: „Lebst du eigentlich gern in der DDR?"

Alexander hielt überrascht mit dem Rudern inne. „Das willst du jetzt nicht wirklich beim ersten Treffen fragen, oder?", erwiderte er und sah mich forschend an.

„Gibt es denn ein Weiteres?", tat ich unschuldig.

„Das hängt ganz von dir ab", war die lakonische Antwort, während seine Augen mich aufmerksam musterten. Das tat es ganz buchstäblich, wurde mir in diesem Augenblick klar. Wenn ich nicht nach Ost-Berlin kam, würde es kein Treffen geben.

„Ich komme gerne wieder", versicherte ich daher ohne lange nachzudenken und freute mich über das Lächeln, das sich wieder auf Alexanders Gesicht ausbreitete. Dann fiel mir ein, was ich vorhin schon hatte fragen wollen: „Du willst doch in Moskau studieren? Warum nicht hier?" Wenn ich an die Entfernung zwischen Deutschland und Russland dachte, begann ich an der Sinnhaftigkeit eines zukünftigen Treffens zu zweifeln. Und doch spürte ich, dass ich dabei war, mich zu verlieben...

„Ist das nicht offensichtlich?", erwiderte Alexander und zog die Ruderblätter gemächlich durch's Wasser.

Ich schüttelte verständnislos den Kopf und hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte.

„Ich will halt raus aus diesem Land... irgendwohin, wo man sich freier fühlt... nicht ständig die Mauer vor Augen hat..." Seine Stimme gewann mit jedem Satz an Schärfe. Dann wurde er wieder ruhiger.

"Ich war auf der Schule mit erweitertem Russischunterricht und lerne seit der dritten Klasse Russisch. Sprache und Land faszinieren mich einfach. Deshalb war es dann nur eine Entscheidung zwischen Petersburg und Moskau."

Es war logisch, was er sagte. Während wir in die USA oder nach Frankreich als Au-pair gingen, strebte man in der DDR natürlich nach Osten. „Jetzt hast du doch schon beim ersten Treffen geantwortet", stellte ich fest.

„Stimmt" Alexander grinste, die Ernsthaftigkeit war verflogen. „Jetzt brauche ich wohl etwas anderes, das dich hierher zieht." Er zog die Stirn kraus und dachte nach. „Vielleicht Boot fahren?" Er reichte mir auffordernd die Ruderblätter mit den Worten: „Hier, mach mal!"

„Aber ich kann das nicht..." protestierte ich, aber vergebens, Alexander hatte sich bereits an die Spitze des Bootes zurückgezogen, den Kopf nach hinten fallen lassen und die Augen geschlossen, und so war mir nichts anderes übrig geblieben als schnell in die Mitte zu krabbeln und nach den Ruderblättern zu haschen, bevor sie sich von dannen machen konnten. Hilflos stakste ich damit durch das Wasser, was aber lediglich dazu führte, dass das Boot Kreise beschrieb. „Was muss ich denn tun?" Aus Nervosität klang meine Stimme höher als sonst.

Alexander öffnete schließlich die Augen und bemerkte grinsend: „Weißt du, dass du gerade in die Böschung lenkst?", machte aber keine Anstalten einzugreifen.

„Was...?! Wie...?" Panisch drehte ich mich um, aber es war schon zu spät, der Strömung folgend trieb das Boot mitten durch eine Trauerweide, deren Zweige tief hinunter ins Wasser hingen. Ich duckte mich tief nach vorne, um ihnen auszuweichen. Als das Boot mit einem Ruck gegen die Böschung stieß, verlor ich das Gleichgewicht und fiel nach vorne – direkt in Alexanders noch rechtzeitig ausgestreckte Arme.

„He, nicht so stürmisch!", lachte er, und dann, als sich unsere Gesichter nur noch Zentimeter voneinander entfernt befanden, murmelte er leise: „Gute Idee eigentlich..."

Für einen Moment sahen wir uns in die Augen und in meinem Bauch begann es aufgeregt zu kribbeln. Dann berührte Alexander vorsichtig meine Lippen, abwartend erst, als fürchtete er, ich könne ihn fortschubsen, und schließlich in einem zärtlichen Kuss endend, den ich glücklich erwiderte. Als wir uns voneinander lösten, hatten wir kleine Zweige und Baumpollen in den Haaren, was so lustig aussah, dass wir beide laut lachen mussten. „Für Mädchen, die mich küssen, bin ich übrigens Sascha", bot Alexander an und lächelte mich so hinreißend an, dass ich ihn am liebsten gleich noch einmal geküsst hätte. Was ich dann auch tat.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt