30. September, Sascha

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Sascha

Zufrieden vor mich hin summend schloss ich die Eingangstür auf, aber statt wie üblich einfach aufzugleiten, klemmte sie irgendwo. Ich warf mich mit meinem vollen Gewicht dagegen – so viel Mühe hätte es nun auch nicht bedurft, aber es fühlte sich einfach männlicher an als sie schlicht kräftiger aufzudrücken – und sie sprang auf, so dass ich mich mit Hilfe der Krücken über die Schwelle bugsieren konnte.

Gott, wie ich diese Dinger hasste, die ganzen Schultern taten mir weh, wenn ich länger unterwegs war. Aber die Zeit, in der ich sie brauchte, näherte sich zum Glück ihrem Ende, in drei Tagen kam der Gips ab. Allerdings hatte die Ärztin darauf hingewiesen, dass ich die Krücken trotzdem noch benötigen würde, denn die Muskulatur des wochenlang ruhig gestellten Beines musste erst wieder trainiert werden. Aber das Meiste hatte ich jedenfalls endlich hinter mir.

Der Fahrstuhl stand im Erdgeschoss, als erwartete er mich bereits, und ich stieg ein und ließ zufrieden den Tag Revue passieren. Das Frühstück war eine schöne Überraschung gewesen und die anschließenden Stunden hatten wir überaus vergnüglich zu nutzen gewusst, obwohl wir uns auf die Datsche beschränken mussten, was bei diesem Wetter im Grund genommen eine Schande war. Wenn es nicht gerade in Strömen regnete, zog es mich normalerweise immer nach draußen und diese ganze Bewegung fehlte mir echt.

Der Fahrstuhl setzte sich mit einem Ruck in Bewegung und meine Gedanken glitten zum kommenden Wochenende. Am liebsten würde ich mir schon Montag den Gips entfernen lassen. Dann hätte ich mehr Zeit, mein Knie wieder an die Belastung zu gewöhnen, denn ich spielte mit dem Gedanken, am kommenden Samstag zur 40-Jahr-Feier zu gehen beziehungsweise zur parallel stattfindenden Demonstration für Reformen, von der Silke mir erzählt hatte. Da ich die DDR jetzt ohnehin nicht verlassen konnte, hatte ich notgedrungen beschlossen, hier vor Ort etwas zu tun, um vielleicht eine Veränderung zu bewirken. Kathi hatte mich darin bestärkt.

„Mach das, damit du nicht an deiner Wut erstickst", hatte sie geraten und ihre Unterstützung hatte gut getan.

Allerdings hatte ich ihr verschwiegen, dass die Teilnahme an dieser Demonstration nicht ungefährlich sein würde, um sie nicht zu beunruhigen. Keiner konnte wissen, was Honecker einfallen würde, wenn Tausende Demonstranten seine Selbstbeweihräucherung durch ihre pure Anwesenheit stören würden. Es war nicht so, dass mich das Risiko kalt ließ, aber ich war gerade an einem Punkt angekommen, wo ich einfach nur froh war, endlich etwas tun zu können, um nicht verrückt zu werden. Und ich hoffte, dass es der Staatsratsvorsitzende im Beisein internationaler Gäste wie Gorbatschow nicht wagen würde, in die Menge zu feuern, wie es in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens passiert war. Hoffentlich.

Ein leises Klingeln verkündete, dass der Fahrstuhl am Ziel angekommen war. Ich kramte meinen Schlüssel heraus, aber kam gar nicht dazu, ihn zu benutzen, denn schon öffnete meine Mutter die Tür, sie musste mitbekommen haben, dass ich bereits davor stand.

„Wo warst du denn so lange?" zischte sie leise. „Dein Vater ist ungehalten. Mit ihm ist schon den ganzen Nachmittag nicht gut Kirschen essen, reiz ihn bloß nicht weiter!"

Ich zog stumm die Augenbrauen hoch, das klang fast so, als hätte Mutti schon selbst etwas von seiner Laune abbekommen.

Er stand im Wohnzimmer, mit dem Blick zur Straße hinaus, die Hände an der Seitennaht seiner Hose, wie Jemand auf einem Beobachtungsposten, und seine ganze Haltung drückte Anspannung und unterdrückten Ärger aus. Als er mich hörte, drehte er sich um und stemmte die Hände in die Hüften.

„Wo warst du den ganzen Tag?" herrschte er mich vorwurfsvoll an.

Da ich volljährig und ihm damit keine Rechenschaft schuldig war, antwortete ich daher nur kühl:

„Was kümmert es dich?"

Die Bitte meiner Mutter, ihn nicht zu reizen, hatte ich längst vergessen. Er kam einen Schritt auf mich zu und funkelte mich wütend an, während sich auf seiner Stirn eine Zornesfalte bildete.

„Warst du mit diesem Mädchen zusammen?", brüllte er in einer Lautstärke, als wäre er auf dem Kasernenhof.

„Pscht", machte Mutti und wies mit der Hand nach oben und unten. „Das müssen ja nicht die Nachbarn mitbekommen."

„Und wenn – ich bin Achtzehn, du kannst mir nichts mehr vorschreiben", gab ich zurück und schaffte es sogar, ihn anzugrinsen, was ihn, wie ich wusste, zur Weißglut treiben würde.

Er wurde tatsächlich zornesrot im Gesicht und brüllte, nicht weniger laut als eben:

„Ich hatte es dir verboten!"

Obwohl ich nicht vergessen hatte, was beim letzten Mal passiert war, als ich seinen Anweisungen nicht nachgekommen war, konnte ich mich nicht beherrschen.

„Und – was willst du nun machen?!", forderte ich ihn heraus. „Willst du mich wieder verprügeln? Los, nur zu, geh und schlag einen Verletzten!", höhnte ich und ballte unwillkürlich die Fäuste.

Ich wusste nicht, was mir den Mut oder den Leichtsinn gab, mich so zu verhalten, ohne daran zu denken, dass mir mehr als Schläge drohen konnten. Aber ich konnte einfach nicht anders, er ging mir so was von auf den Sack, mit seinen Vorschriften und Anordnungen und seiner völligen Realitätsferne. Ich sah ihn an, er hatte die Augen zusammengekniffen und hielt sich offenbar mühsam zurück.

„Horst, Sascha, hört auf, bitte", fuhr Mutti dazwischen, und sah abwechselnd mich und abwechselnd meinen Vater bittend an.

„Es tut Vati doch längst leid, was er getan hat."

Vati schwieg dazu, es tat ihm natürlich überhaupt nicht leid, ich wusste es, und er wusste, dass ich es wusste. Und dass er mich mit voller Absicht geschlagen hatte, um mir einen Gehorsam einzubläuen, von dem ich mich längst verabschiedet hatte, war überhaupt das Schlimmste. Ich hielt es keine Sekunde länger in der Stube aus, drehte mich daher um und verließ den Raum mit so wenig humpelnden Schritten wie möglich.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt