12. November, Sascha
Wir standen dicht gedrängt in der Bahn, aber das störte niemanden. Alle Reisenden waren guter Stimmung, die Erwachsenen hatten vor Freude glänzende Augen und die Kinder schnatterten aufgeregt und löcherten ihre Eltern mit Fragen, während diese sich untereinander über die letzten Tage austauschten. Ich lehnte mich an die Wand und schloss für einen Moment schläfrig die Augen.
Die Tage hatten im Moment gefühlt mehr als vierundzwanzig Stunden; ich segelte auf einer Welle der Euphorie, kostete jede einzelne Minute aus, und jedes Erlebnis wurde sogleich von einem neuen Eindruck überlagert, bis ich irgendwann völlig erledigt ins Bett sank. Zeit zum Innehalten, zum stillen Genießen nahm ich mir nicht. Ich hatte das Gefühl, alles sofort tun zu müssen.
Daher saß bzw. stand ich heute in der Bahn, die mich nach Hamburg zu Rainer bringen würde. Ich freute mich total darauf, ihn wiederzusehen, drei Monate waren seit seiner Flucht vergangen und wir hatten einander mit Sicherheit viel zu erzählen. Ich war neugierig darauf, zu erfahren, wie sie von Ungarn in die BRD gekommen waren und Rainer war ebenso gespannt darauf, von den Demonstrationen und der Nacht der Maueröffnung zu hören.
Der Zug ruckelte, als er eine Brücke verließ, und nahm schließlich an Fahrt auf. Es war so voll im Abteil, dass selbst bei einer Vollbremsung wenig Gefahr bestand umzukippen und der konstante Rhythmus des ratternden Zuges ließ uns alle leicht hin und her schwanken. Ohne Vorwarnung überfiel mich die Müdigkeit, der Körper holte sich, was er brauchte, und ich versank in einen Dämmerschlaf, in dem mir Bilder von Kathi, jubelnden Menschen und gleißender Neonreklame durch den Kopf gingen.
Als ich wieder zu mir kam, fuhren wir bereits durch Mecklenburg-Vorpommern. Noch immer müde rieb ich mir die Augen und knetete meinen Nacken, der von der ungemütlichen Haltung ganz steif geworden war. Gesprächsfetzten schnappte ich auf, in denen Leute über eine Wiedervereinigung diskutierten. Wiedervereinigung? Es schien absurd, zwei so verschiedene Staaten mit verschiedenen Währungen. Und es klang, wie ich fand, auch nicht erstrebenswert.
Andererseits war ich wohl kaum der Richtige, diese Idee zu verurteilen, da ich den bisherigen Plan, der DDR den Rücken zu kehren, trotz der Maueröffnung umzusetzen gedachte. Wie so vieles anderes auch war jetzt absolut unklar, wie es mit dem Wehrdienst weiter gehen würde, aber ich war entschlossen, es nicht darauf ankommen zu lassen, doch noch eingezogen zu werden!
Gestern Nachmittag hatten Kathi und ich mit ihren Eltern gesprochen, die einverstanden waren, dass ich bis auf Weiteres bei ihnen unterkommen würde. Dem Umzug von Ost nach West stand somit nichts mehr entgegen. Nur mit meinen Eltern würde ich noch reden müssen, um sie von meinem Entschluss in Kenntnis zu setzen. Allerdings würden sie mich ohnehin nicht davon abhalten können.
Ich rieb über den durchscheuerten Ärmel meiner Jacke und sah nachdenklich aus dem Fenster, auf endlose grüne Wiesen, die von der Ländlichkeit dieser Gegend kündeten und allmählich packte mich wieder die Aufregung, wenn ich an das Ziel meiner Reise dachte. Es war der erste Besuch in der Bundesrepublik und ich war entsprechend gespannt. Obwohl Rainer eigentlich vorgehabt hatte, nach Berlin zu kommen, war es mir gelungen, es ihm auszureden, denn ich brannte darauf, mir endlich das anschauen zu können, was mir die ganze Zeit verwehrt gewesen war.
Die Leute in meiner Nähe redeten inzwischen über die Vorteile, in den Westen zu ziehen und dort zu arbeiten und versonnen dachte ich darüber nach, wie es sein würde, im Westen zu leben. Das was ich bisher gesehen hatte, hatte mich schier erschlagen und es war vielleicht jetzt genau der richtige Zeitpunkt, mich mit Rainer zu treffen, um von den Erfahrungen, die er mir ein paar Monate voraus hatte, profitieren zu können.
Beiläufig zog ich meine Geldbörse aus der Hosentasche und betrachtete zufrieden den ungewohnten 100-DM-Schein, den ich als Begrüßungsgeld erhalten hatte und noch nicht ausgegeben hatte, weil ich mich nicht entscheiden konnte, wofür ich ihn verwenden wollte. Trotz der schockierend hohen Preise hatte ich es mir nicht nehmen lassen, Kathi und ihrer Schwester eine Runde zu spendieren, aber ich hatte dafür die Devisen genutzt, die ich zu Hause für den Urlaub in Ungarn zurückgelegt gehabt hatte.
Mit den Fingern fuhr ich behutsam das Papier entlang. Diesen Schein hier wollte ich für irgendetwas Besonderes verwenden!
Und dann glitten meine Gedanken in die Zukunft. Ich hatte die Schule beendet und nun stand mir tatsächlich die Welt offen. Wer hätte das noch vor einem halben Jahr bei der Abiturfeier gedacht! Die Öffnung der Grenzen hätte zu keinem besseren Zeitpunkt passieren können, dachte ich und schnipste grinsend ein paar Halme von meiner Hose.
Ich musste nichts aufgeben, nichts abbrechen, sondern konnte direkt mit etwas Neuem beginnen. Das Studium in Moskau war zwar gestorben, aber dafür bot sich nun ein Studium in Westberlin an, weiß Gott keine schlechte Alternative. Und mit Kathi von nun an immer an meiner Seite. Zufrieden lächelte ich vor mich hin. Es waren fabelhafte Aussichten.
DU LIEST GERADE
Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...