Es klingelte an der Haustür, während er gerade im Bad war. Typisch. Markus wusste nicht, ob er hoffen sollte, dass Ines öffnete, oder lieber, dass sie sich gar nicht blicken ließ.
„Hallo, ich wollte zu Markus", hörte er gedämpft Kathis Stimme nach oben dringen. Also hatte Ines geöffnet.
Hastig riss er die Badezimmertür auf und schaute die Treppe hinunter.
„Du bist Ines, stimmt's?", fuhr Kathi tapfer fort, obwohl seine Schwester in Schweigen versunken war und Kathi unbarmherzig begutachtete. Immerhin schloss sie wenigstens die Haustür.
Markus beeilte sich, in den Flur zu kommen.
„Sorry", entschuldigte er sich mit einem Grinsen und begrüßte Kathi mit einem kurzen Kuss, „Ines ist sonst eigentlich nicht so wortkarg".
Ines warf ihm einen bitterbösen Blick zu und kommentierte dann sarkastisch, zu Kathi gewandt:
„Bist du sicher, dass du den besuchen willst? Sein Charme, den er auf die Frauenwelt loslässt, ist nämlich nur Show. In Wirklichkeit ist er ein ungehobelter Klotz."
Kathi lächelte dazu nur unverbindlich und Markus schoss ohne zu zögern zurück:
„Und du bist ein Biest. Lass uns heute Abend bloß in Ruhe. Ich habe den Fernseher reserviert."
Ines warf ihm einen frechen Blick zu und steckte auffordernd die Hand aus.
„Was krieg ich dafür?", fragte sie lauernd.
Kleine Schwestern waren wirklich grässlich, dachte Markus, hätte sie das nicht vorher fragen können? Aber natürlich war das jetzt volle Absicht. Er hatte keine Lust, das mit ihr vor Kathi zu diskutieren und das wusste Ines natürlich. Widerwillig zog er zwei Münzen aus der Hosentasche. Ines zog demonstrativ die Augenbrauen hoch, nahm sie aber kommentarlos entgegen. Und endlich ein bisschen Benehmen zeigend, wünschte sie Kathi noch „viel Spaß beim Gucken", bevor sie die Treppen hinaufstieg und verschwand.
Markus zog eine Grimasse und Kathi zuckte verständnisvoll mit den Schultern.
„Wo gucken wir denn?", wollte sie wissen und wirkte ein kleines bisschen erleichtert, als er auf das Wohnzimmer wies, das sie ja bereits von der Party kannte.
„Kann ich auch mal dein Zimmer sehen?", fragte Kathi schließlich aufgeräumt einige Momente später.
„Klar!", Markus nahm ihre Hand, zog sie die Treppe hinauf und öffnete schwungvoll die Tür zu seiner Rechten.
Mit neugieriger Miene sah sich Kathi um. Das Zimmer war klein, aber Markus hatte durch sparsame Möblierung darauf geachtet, dass es nicht zu eng wirkte. Eine Couch nahm die eine Länge des Zimmers ein, eine zerknüllte Decke und ein nachlässig hingeschmissener Pyjama wiesen darauf hin, dass es sich um einen Schlafplatz handelte. Ein Schmunzeln glitt über Kathis Gesichtszüge und Markus beeilte sich, dort in aller Schnelle ein wenig Ordnung zu schaffen.
Wirklich, wie blöd konnte man sein und nicht wenigstens das Zimmer ein wenig auf Vordermann bringen, bevor man Besuch empfing, fuhr es ihm durch den Kopf. „Sorry für die Unordnung", warf er betont leichthin ein, während es ihm in Wirklichkeit ziemlich peinlich war. Gut, dass er wenigstens das Wohnzimmer aufgeräumt hatte.
„Macht nichts". Kathi drehte sich um und strahlte ihn an. „Sieht bei mir auch nicht anders aus".
Ihr Blick fiel auf ein Bücherregal neben der Tür. Intensiv gelesene Taschenbücher – Knicke zeugten von regelmäßigem Gebrauch – standen neben einigen Comics und einigen gebundenen Bänden, die er irgendwann einmal geschenkt bekommen und vermutlich nie gelesen hatte. Interessiert studierte Kathi die Titel der französischen Bücher, sagte aber nichts.
Schließlich sah sie sich die großen Landschaftsfotografien an, die an der Wand hingen.
„Hier, das ist die Düne von Pilat", erläuterte Markus ungefragt und deutete auf eine Sanddüne, die fast das ganze Bild einnahm. „Und das hier ist die Normandie."
Er wies auf das Foto einer Steilküste.
„Schön", kommentierte Kathi und wollte angetan wissen: „Hast du die fotografiert?"
„Ich benutze ganz gern mal die Kamera", gab sich Markus bescheiden, freute sich jedoch, als Kathi ein beeindrucktes „Wow" von sich gab.
„Ich glaube, du hängst ziemlich an Frankreich", stellte sie fest, nachdem sie alle Fotos ausgiebig betrachtet hatte.
„Ist das so deutlich?"
Markus lachte und nahm ihre Hand.
„Du würdest bestimmt gern zurück, wenn die Situation eine andere wäre, nicht wahr?", kam es nachdenklich von Kathi.
„Also jetzt bestimmt nicht!", gab Markus entschieden zurück und sah sie so bedeutsam an, dass sich ein verlegenes Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Schließlich zog er Kathi in seine Arme und der darauffolgende Kuss ließ sie für einen Augenblick das geplante Videogucken vergessen.
Zehn Minuten später hatten sie es sich jedoch auf dem Sofa im Wohnzimmer bequem gemacht. Kathi kuschelte sich an ihn, während er mit seiner Hand zärtlich durch ihre Haare fuhr. Auf dem Film lief noch der Vorspann und Kathi nutzte die Zeit für eine Bitte, über die sie sich im Klaren geworden war, nachdem sie noch immer keine Lösung gefunden hatte, wie sie Markus die Wahrheit schonend beibringen konnte.
„Weißt du, was ich mir wünsche?"
Markus warf ihr einen fragenden Blick zu.
„Anders genannt zu werden", fuhr Kathi fort. „Zu Hause klappt es, aber in der Schule... einmal hatte ich es versucht, aber die kennen mich alle zu lange und es hat daher nicht funktioniert. Aber bei dir hätte ich doch vielleicht eine Chance..."
Mit einem koketten Augenaufschlag sah Kathi ihn an. Mit so einem Blick kannst du alles haben, dachte Markus und lächelte ein wenig amüsiert über das Anliegen.
„Und wie soll ich dich nennen?"
Kathi kuschelte sich wieder in seinen Arm und vermied seinen Blick, als sie erwiderte: "Zu Hause nennen sie mich Susanne oder Sanne, nach meinem zweiten Namen. Katharina oder Kathi mag ich nicht so besonders."
„Echt?", reagierte Markus verblüfft und ließ seine Hand auf ihre Schulter sinken.
Kathi drehte sich wieder zu ihm um und nickte bekräftigend.
„Bitte...", bat sie, während ihre großen grünen Augen ihn vertrauensvoll ansahen und seinen Blick festhielten. Verstehen tat er ihren Wunsch nicht, er selbst fand Kathi durchaus schön, eigentlich sogar besser als Sanne, doch wenn es das war, was sie sich wünschte...
„Sicher, wenn du das willst..." antwortete er langsam und erntete sofort ein so strahlendes Lächeln, dass er vergaß, was er noch hatte sagen wollen.
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Herz in den Wolken
RomansaDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...