Susanne
Es dauerte einige Sekunden, bis Susanne voll und ganz begriff, was geschehen war. Sie hatte das Gefühl, die Kehle wäre ihr zugeschnürt und sie bekam kaum Luft. Jeden Moment, hoffte sie, würde er umkehren und ihr die Möglichkeit geben, alles zu erklären – wobei sie keine Ahnung hatte, wie sie es genau anstellen sollte.
Die Minuten verrannen, während Susanne stocksteif da stand, den Blick auf den Weg vor sich gerichtet, doch Markus tauchte nicht wieder auf. Da schossen ihr die Tränen in die Augen und liefen wie ein Sturzbach die Wangen hinunter. Wie konnte das geschehen? Es war doch gerade noch so schön gewesen. Verzweifelt ließ sie sich ins Gras plumpsen und vergrub das Gesicht zwischen den Knien. Ihr war, als stürze der Himmel auf sie nieder und jegliche Freude, jegliches Schönes verschwände in einer großen dunklen Finsternis.
Eine Ewigkeit blieb sie so zusammengekauert sitzen. Sie hatte keine Motivation aufzustehen, es war doch jetzt sowieso alles egal, sie könnte hier die ganze Nacht so sitzenbleiben, könnte überfallen werden, erfrieren, egal. Sie sah sich bereits in einem Sarg liegen, rundherum alle Freunde und Verwandte, die mit betroffenen Mienen da standen und sagten: „Hätten wir doch bloß nicht...", ganz besonders Markus, tränenüberströmt, voller Reue... aber nun war es zu spät. Gleichzeitig war Sanne klar, wie albern diese Vorstellung war, natürlich wollte sie nicht sterben, aber das, was Markus gesagt hatte, wie er sich verhalten hatte, das tat verdammt weh.
Als die ersten Regentropfen sie trafen, zuckte Susanne zusammen und schaute nach oben. Eine dicke graue Wolke hing direkt über ihr. Aber in Sekundenschnelle zog sie weiter und mit ihr der Regen, der kaum mehr als ein Tröpfeln gewesen war. Schwerfällig stand Susanne auf und machte sich aufgewühlt auf den Rückweg.
Nach ein paar Schritten traf sie der Wind mit voller Macht. Er riss an ihrer Kleidung, fuhr ihr ins Gesicht und trocknete im Nu die tränenfeuchten Wangen. Die ganze Luft war von einem Rauschen erfüllt. An den Bäumen schwangen die Äste hin und her, die Büsche am See wurden zur Seite gedrückt, bis sie fast waagerecht lagen, die Wellen trugen kleine Schaumkronen. Der Wind hatte sich zu einem veritablen Herbststurm ausgewachsen und es war wirklich höchste Zeit, nach Hause zu fahren.
Susanne schniefte leise, als sie daran dachte, wie ausgelassen sie hierher gefahren waren. Aber sie hatte sich ja alles selbst zuzuschreiben. Hätte sie bloß früher geredet! Andererseits...dann hätte sie noch weniger Zeit mit Markus verbracht. Wahrscheinlich hätte er mindestens so wie heute reagiert. Wie man es auch drehte und wendete, es gab einfach keinen guten Weg, die Wahrheit zu sagen. Jetzt kam sie allerdings nicht mehr darum herum, wenn es überhaupt noch eine Chance für ihre Beziehung geben sollte...
Das Brausen des Sturms über ihrem Kopf klang beängstigend und ihre Schritte beschleunigten sich. Sie wollte endlich raus aus dem Gelände und wieder bewohntes Gebiet erreichen. Mit Grauen dachte Susanne daran, dass sie noch durch die Allee fahren musste, was bei diesem Sturm überhaupt nichts Verlockendes an sich hatte. Sie sah umher, aber nicht eine Menschenseele war zu erblicken; es war, als wäre sie ganz allein auf der Welt. Endlich hatte sie ihr Rad entdeckt und seufzte erleichtert auf, denn damit war sie zum Glück im Nu zurück in der Zivilisation.
Doch als sie sich näherte, erschrak sie. Das Rad stand nicht mehr, es lag auf dem Boden, niedergerissen von einem dicken Ast, der quer über dem Mittelteil des Fahrrades lag. Nur das Vorderrad stand noch, von der Fahrradkette gehalten, in einem grotesken Winkel zum Rest. Susanne fuhr mit der Hand an den Mund und unterdrückte einen Aufschrei.
Dann versuchte sie mit aller Kraft, den Ast fortzuziehen. Die an ihm hängenden Zweige machten das Unterfangen nicht leichter. Sie schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen Kratzer auf ihren Händen. Bald schon in Schweiß gebadet, rackerte sie sich weiter ab – doch vergeblich, der Ast war zu schwer, um ihn beiseite zu ziehen geschweige denn, ihn anzuheben oder das Rad darunter hervorzuziehen.
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Herz in den Wolken
Storie d'amoreDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...