5. August, Kathi

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Kathi

Der Pfad führte ein Stückchen nach oben, die Büsche wichen zur Seite und gaben den Blick auf den Fluss frei.

„Schöne Aussicht", bemerkte ich etwas außer Atem, als wir stehen blieben.

„Mein Lieblingsplatz", ließ sich Sascha vernehmen und legte den Arm um mich. „Kennt sonst keiner."

Ich lehnte den Kopf an seine Schulter, genoss den entspannten Augenblick und fühlte mich geehrt, dass er mich mit hierher genommen hatte, was bestimmt ein Anzeichen dafür war, wie wichtig ich ihm war.

„Hierher fahre ich, wenn ich zur Ruhe kommen will. Jedenfalls im Sommer. Ohne Boot wird das nichts", fügte er hinzu, ließ sich auf die Wiese fallen und zog mich mit sich.

„Was war denn los vorhin?", traute ich mich nun doch noch mal zu fragen und machte mich schon auf ein erneutes Abwiegeln gefasst, doch Sascha nickte nur und erwiderte:

„Ich war einfach nur gereizt, von den ganzen Umständen und allem."

Er beschrieb mit der Hand einen vagen Halbkreis, der den Himmel, den Fluss und die ganze Gegend umfasste, aber ich glaubte zu verstehen, was er meinte.

„Tut mir leid, dass ich es an dir ausgelassen habe", entschuldigte sich Sascha noch einmal und fuhr dann fort:

„Aber es ist einfach ein Scheißgefühl, wenn du nicht machen kannst, was du willst, weil alles von jemand anderem vorgeschrieben und geplant wird, wenn du permanent darauf achten musst, bei wem du was sagst, und wenn dein weiteres Leben davon abhängt, das du dich so verhältst, wie es erwartet wird – es ist so, als wenn dir langsam die Luft zum Atmen genommen wird und du genau siehst, wohin das führt und kannst doch nichts dagegen tun."

Die Worte purzelten zunehmend leidenschaftlicher aus seinem Mund und in einer Geste der Verzweiflung warf er die Hände in die Luft und ließ sie dann resigniert wieder fallen. Für einen Moment erschien er selbst überrascht über das, was er gerade preisgegeben hatte. Ich war wie vom Donner gerührt, denn ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er das Leben so empfand. Frustriert wegen der fehlenden Reisemöglichkeiten und der Heimlichkeit unserer Beziehung, klar, aber doch nicht etwas so Grundlegendes...

Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, denn vom Schicksal begünstigt in Westberlin statt in Ostberlin geboren zu sein konnte ich mich nicht wirklich in seine Situation versetzen. Und es war mir nie in den Sinn gekommen, dass er unter dem generellen Leben in der DDR litt. Vor diesem Hintergrund bekam das Flachsen über Fluchtmöglichkeiten letzten Monat einen ganz anderen Sinn...

„Erzähl mir vom Leben hier", bat ich leise.

Und Sascha begann zu erzählen, von der Partei, die immer Recht hatte, vom Abitur, das man nur bekam, wenn man neben guten Noten auch die richtige sozialistische Einstellung hatte und man Arbeitereltern vorweisen konnte. Von dem ständigen Druck des Militärs, sich für drei Jahre zu verpflichten, um dafür anschließend in den Genuss des gewünschten Studiums zu kommen. Von informellen Mitarbeitern der Stasi, die beobachteten und zuhörten und es dann an die Stasi weitergaben.

Von Menschen, die einen Ausreiseantrag stellten und dafür ins Gefängnis kamen oder deren Angehörige einen guten Posten verloren. Von Arbeitsplätzen, die man zwar nicht verlieren konnte, aber von denen man auch nicht einfach so woandershin wechseln konnte. Von Gefälligkeiten untereinander, weil der eine etwas hatte, was der andere gebrauchen konnte und umgekehrt.

Am Ende leerte er durstig eine Flasche mit Wasser, während ich versuchte, das Gehörte zu verarbeiten.

Natürlich hatten wir im Unterricht Kommunismus und Kapitalismus besprochen und vor dem Ausflug ein paar Eckdaten über die DDR erfahren, doch ohne dass mich das besonders tangiert hatte. Die Mauer war da, seitdem ich lebte, war einfach eine Normalität für mich, die ich nie in Frage gestellt hatte. Und wenig Gedanken außer hin und wieder etwas Betroffenheit hatte ich für die übrig gehabt, die unsichtbar auf der anderen Seite der Mauer lebten.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt