23. Juli, Susanne

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23. Juli, Susanne

Susanne band sich konzentriert die Schuhe zu. Dass sich ein Schnürsenkel löste, konnte sie gar nicht gebrauchen, schließlich hatte sie sich vorgenommen, heute ihre persönliche Bestzeit zu schaffen. Wie still es im Haus war. Sie konnte von draußen die Vögel singen hören.

Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr – es war kurz vor acht Uhr. Kathi lag noch im Bett, in den Ferien brachte sie keiner vor zehn Uhr aus den Federn, es sei denn, sie war mit Sascha verabredet. Und ihre Eltern waren schon weg. Ihr Vater hatte heute einen Termin auf dem Arbeitsamt, ihre Mutter hatte ihren Teilzeitjob bei der Orthopädiepraxis, in der sie als Assistentin arbeite, vorübergehend als Urlaubsvertretung aufgestockt. Sie ging früh und kam erst um siebzehn Uhr wieder. Dann war sie erschöpft und unterhielt sich höchstens noch mit ihrem Vater über dessen Bewerbungsbemühungen.

Den ganzen Tag saß er an der Schreibmaschine und tippte seine Bewerbungsschreiben, wobei er permanent laut fluchte, weil er Fehler machte und wieder von vorne anfangen musste.

„Wir müssen uns einen Computer anschaffen", hörte Susanne ihn oft murmeln, damit sei alles einfacher. Susanne interessierte sich nicht für diese neue Technik. Im nächsten Jahr sollte zwar ein EDV-Kurs an ihrer Schule angeboten werden und Maike wollte dorthin gehen, aber sie selbst reizte das nicht.

Jedenfalls hatte keiner der Eltern Zeit für sie und Kathi, aber Susanne fand das nicht weiter schlimm, da ihre Schwester und sie so machen konnten, was sie wollten. Faulenzen, Eis essen, bei gutem Wetter ins Freibad oder an den Wannsee fahren oder Freunde treffen und natürlich Markus...

Susanne ließ die Haustür vorsichtig ins Schloss fallen und begann sogleich locker loszutraben. Auf dem Asphalt der Kleinstraßen lief es sich nicht so schön, aber das ließ sich halt nicht ändern. Die Temperatur um diese Uhrzeit war noch frisch und Susanne bekam eine Gänsehaut, wusste aber, dass es ihr in Kürze warm werden würde, wenn sie sich erst eingelaufen hatte.

Ein Wagen fuhr vorbei und hupte kurz. Meinte er sie? Susanne warf einen Blick auf den Fahrer, konnte aber kein bekanntes Gesicht entdecken. Als sie um die Ecke bog, kam ihr eine Nachbarin mit ihrem Hund entgegen. Sie nickten sich kurz zu, als sie sich passierten, dann wurde es wieder ruhig. Die Leute gingen ihrer Arbeit nach und deren Kinder waren wahrscheinlich noch genauso im Bett wie Kathi. Susanne selbst schlief auch in den Ferien selten länger als 8.3o Uhr, es sei denn, sie hatte die Nacht durchgefeiert. „Das hast du von mir", sagte ihre Mutter immer lachend.

Inzwischen lugte die Sonne zwischen den Wolken hervor und Susanne staunte immer wieder, wie schön die Blumenbeete in den Gärten dann leuchteten. Ob sie wegziehen mussten, wenn ihr Vater keine neue Arbeit fand? Der Gedanke war beunruhigend. Sie hatten ihr ganzes Leben hier in Zehlendorf verbracht, sie wollte auf keinen Fall hier weg. Aber es war auch eine teure Gegend...

Inzwischen war sie in ihren Laufrhythmus gekommen und atmete ruhig und gleichmäßig, als sie den Park erreichte. Das Frösteln war längst verschwunden. Susanne hatte mal versucht, auch ihre Schwester für's Joggen zu begeistern, aber die hatte nach einem Versuch nur müde abgewinkt, Mannschaftssport wie Handball war einfach mehr ihr Ding. Vielleicht hatte Markus ja mal Lust, sich ihr anzuschließen.

Heute Abend waren sie zum Video gucken bei ihm zu Hause verabredet. Seine Mutter würde nicht da sein und Susanne war ein bisschen nervös, sie hoffte, dass Markus nicht etwas erwartete, wozu sie noch nicht bereit war. Aber Ines würde zu Hause sein, hatte er durchklingen lassen, es war also nicht ganz „sturmfreie Bude", das war vermutlich ganz gut. Allerdings hatte Kathi ihr nahe gelegt, unbedingt Kondome mitzunehmen, für den Fall der Fälle, sofern sie sich doch anders entschied...

Im Moment war sie jedoch mit Küssen und Schmusen völlig zufrieden. Wobei Kathi schmunzelnd gemeint hatte, das würde sich bald ändern. Sie hatte inzwischen einen Termin bei der Gynäkologin gehabt und sich die Pille verschreiben lassen. Wie gut, dass sie ihre „jüngere" Schwester hatte, dachte Susanne und musste dabei leicht grinsen. Die konnte sie praktischerweise alles fragen.

Zügig bog sie nun rechts ab in den Weg zur alten Brücke. Dass sie die nächsten drei Wochen im Urlaub sein würde, war ihr irgendwie jetzt gar nicht so recht. Es war eine verdammt lange Zeit, wenn man verliebt war. Ohne zu verlangsamen wich Susanne geschickt einer Pfütze aus, die noch vom letzten Regenguss übrig geblieben war, geriet dabei jedoch beinahe in den Weg eines kleinen Radlers, der wackelig sein Fahrrad durch die Gegend steuerte.

Dann tauchte in der Ferne ein weiterer Jogger auf, was Susanne so anspornte, dass sie unwillkürlich ihre Schritte beschleunigte. Befriedigt registrierte sie, dass sie Stück für Stück näher kam, bis sie die andere Läuferin schließlich überholte, die angesichts einer Steigung immer langsamer geworden war.

Inzwischen klebte Susanne das T-Shirt auf der Haut, mit der Hand strich sie sich verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht und spürte bei jeder Bewegung ihren Pferdeschwanz auf und ab wippen. Langsam füllte sich der Park mit Joggern, Spaziergängern, Hundebesitzern und Familien. Susanne warf einen raschen Blick auf die Uhr. Mist, war es schon so spät? Dann war sie heute langsamer gelaufen?

Leicht verärgert schüttelte sie den Kopf und nahm das Tempo auf. Die nächsten Schritte brachten sie aus dem Park zurück auf den Asphalt. In diesem Moment begann es zu tröpfeln. Der Wind hatte aufgefrischt und in der Ferne war ein leises Donnergrollen zu hören. Nicht sonderlich beunruhigt lief Susanne mit entschlossenem Gesichtsausdruck weiter, denn bis das Gewitter hier wäre, würde sie längst zu Hause sein.

Aus dem Tröpfeln wurde allmählich ein dünner Landregen. Die Blumen, die vorhin noch so im Sonnenschein geleuchtet hatten, hatten zum Teil ihre Blüten geschlossen und ließen die Köpfe hängen, als versuchten sie, sich vor dem Regen zu schützen. Da tauchte das Gartentor auf, das Susanne aus Bequemlichkeit gleich offen gelassen hatte. Mit letzter Kraft stolperte sie in den Garten. Blick auf die Uhr – Geschafft! Eine Minute schneller als beim letzten Mal. Sie blieb stehen und dehnte ihre Beinmuskeln, sehr zufrieden mit sich und dem Tagesauftakt.

In diesem Moment begann der Regen in einem lauten Rauschen vom Himmel zu fallen, dicke Regentropfen zerplatzten auf ihren Schultern und durchnässten, was bisher noch trocken geblieben war. Aber es war ein warmer Regen, mit dem durchdringenden Geruch nach Sommer, der entsteht, wenn Regen auf gewärmten Boden trifft. Susanne zog mit einem Ruck ihre Schuhe aus, tänzelte barfuß auf den Rasen und streckte ausgelassen ihre Arme zur Seite aus, den Kopf nach oben gereckt, und spürte mit stillem Vergnügen, wie ihr die Regentropfen über Gesicht und Arme rannen. Es prickelte angenehm auf der Haut und es dauerte nicht lange, bis sie völlig durchnässt war.

Als ihr langsam kühl wurde, griff sie mit Bedauern nach ihren Laufschuhen – auch diese völlig nass, da sie versäumt hatte, sie unterzustellen – und hüpfte auf die Haustür zu, zog den Schlüssel aus einem der Blumenkübel ( „Niemals den Schlüssel draußen bei der Tür deponieren", hatten die Eltern unentwegt gepredigt und genauso kontinuierlich hatte sie weggehört ) und schlängelte sich in den Flur. Ihre nassen Füße hinterließen ein paar Abdrücke auf den Fliesen und das Wasser tropfte aus ihrem Zopf, als sie die Treppe hinauf ging. Kathis Zimmertür war noch geschlossen. Daher verschwand Susanne pfeifend im Bad und genoss dann ausgiebig den warmen Wasserstrahl der Dusche.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt