31. Dezember, Sascha

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31. Dezember, Sascha

„Lass uns lieber hier an der Seite bleiben", schlug Kathi vor, „Das schaffen wir sowieso nicht mehr."

Ich seufzte. „Damit könntest du Recht haben... Zu blöd!"

Ich war zwar vor ein paar Tagen schon durch das Brandenburger Tor gegangen, als es nach Weihnachten endlich geöffnet worden war, aber das neue Jahr dort zu begrüßen wäre natürlich klasse gewesen.

Auch Markus und Susanne blieben neben uns auf einem kleinen Quarree neben ein paar mit Steinen eingefassten Pflanzen stehen, während sich der Pulk an Menschen zielgerichtet, aber überaus langsam in Richtung Brandenburger Tor bewegte. Es war so voll, dass an ein schnelleres Vorankommen nicht zu denken war, kaum einmal taten sich Lücken in der Menge auf, aber wider besseren Wissens schienen alle an dem Wunsch festzuhalten, Berlins Wahrzeichen in den nächsten fünfzehn Minuten noch rechtzeitig zu erreichen.

Kathi stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte sich, konnte aber außer den sich vorbei schiebenden Körpern nichts erkennen. „Komm!", nickte ich ihr auffordernd zu und hievte sie auf meine Schultern, woraufhin Markus und Susanne unserem Beispiel folgten.

„Uih, ist das hoch", quiekte Susanne und hielt sich an Markus' ausgestreckten Händen fest.

Ich hielt Kathis Beine fest und wollte wissen:

„Und, was seht ihr?".

„Da! Da hinten ist das Brandenburger Tor."

Sie wackelte gefährlich und ich tat sicherheitshalber einen Schritt nach hinten, um sie auszubalancieren.

„Irre – so viele Menschen!", rief Susanne, die schreien musste, um von uns gehört zu werden.

„Guck mal, die ganzen Fahnen", kreischte Kathi, „Wie geil ist das denn!"

Wer hätte noch vor zwei Monaten gedacht, dass Ost und West hier gemeinsam auf dem Pariser Platz und unter den Linden Sylvester feiern würden. Es war so schnell gegangen – irgendwie unwirklich... Vielleicht träumte ich alles ja nur.

Doch dass sich Kathi dann zu mir runter beugte und mit ihren Fingern meine Wangen entlang strich, war definitiv kein Traum. Ich nahm ihre Hände und ließ sie dann langsam meinen Rücken herunter rutschen, bevor ich mich zu ihr umdrehte und sie in die Arme schloss. Wir sahen uns einen Moment wortlos an und Kathi flüsterte, meine Gedanken aufgreifend:

„Es ist irgendwie noch immer kaum zu glauben, oder?"

Ich nickte nur stumm, überwältigt von den verschiedenen Emotionen, die mich erfasst hatten: Erst die wachsende Verzweiflung angesichts des eingeschränkten Lebens, dann die beginnende Hoffnung durch das ungarische Loch im Eisernen Vorhang, die wachsenden Flüchtlingsströme in die Botschaften, die Demonstrationen und schließlich die Öffnung der Mauer... Was für ein Weg! Und nun konnte ich hier zusammen mit Kathi das neue Jahr begrüßen...

„Es wird ein tolles neues Jahr, du wirst sehen!" versprach Kathi voller Zuversicht, riss mich aus meinen Gedanken und gab mir einen langen Kuss.

„Leute, ich will ja nicht stören, aber in acht Minuten ist Mitternacht", unterbrach Markus den innigen Moment und wir lösten uns voneinander.

„Haben wir wenigstens Sekt?", wollte ich wissen.

„Jawohl!", kam es daraufhin militärisch-knapp von Markus und Susanne salutierte lachend mit der Hand an der Stirn.

Markus öffnete die Flasche, sagte in Anlehnung an die Diskussion von vorhin zwinkernd „Mumm-Sekt" und Kathi kramte in ihrem Beutel und zog einen kleinen Karton hervor, den sie fröhlich präsentierte.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt