26. September, Sascha
Ich ließ meine Augen über den Spielplatz streifen. Eine Gruppe von Kindern im Grundschulalter spielte zwischen den Büschen Verstecken, im Sandkasten saß ein kleiner Junge und türmte konzentriert Sand aufeinander und auf einer Wiese nebenan bolzten ein paar Jungen mit ihrem Ball.
Ich saß auf einer Bank neben dem Spielplatz, hatte einfach mal nach draußen gemusst, denn zu Hause fiel mir die Decke auf den Kopf, aber an große Touren war leider noch nicht zu denken.
„...Acht, Neun, Zehn...ich komme!", schrie ein Mädchen mit Pferdeschwanz, so laut, als hätten sich ihre Freunde nicht auf dem Spielplatz, sondern im Weltall versteckt. Unweigerlich entstanden in meinem Kopf Bilder, wie Rainer und ich hier einst Jähns Flug ins All nachgespielt hatten.
Ich konnte mich noch gut an die Begeisterung erinnern, die uns Kinder damals gepackt hatte, als es Jähn als erstem Kosmonauten der DDR gelungen war, ins Weltall zu fliegen. Die Nachrichten hatten pausenlos davon berichtet, selbst das Sandmännchen war dabei gewesen, und der Held der DDR war eine Zeitlang auch mein absoluter Held gewesen. Rainer und ich hatten uns oft darum gebalgt, wer den Jähn spielen durfte...
Der Gedanke an Rainer versetzte mir einen Stich. Er hatte sich letzte Woche telefonisch gemeldet, aus Hamburg, wo sie bei ihren Verwandten untergekommen waren. Tatsächlich war die ganze Familie gefahren, ungeplant, aber mitgerissen von den Ereignissen in Ungarn, wie es schien. Ich hatte mich für Rainer gefreut, natürlich, aber innerlich eine große Leere verspürt. Es war bitter und frustrierend, in den Nachrichten der Westmedien zu sehen, wie sich einer nach dem anderen aufmachte, der DDR den Rücken zu kehren, während ich hier fest hing, behindert durch ein Gipsbein, das mir nicht viel mehr als die paar Schritte zum Spielplatz ermöglichte!
Die Kinder hatten inzwischen ihr Versteckspiel aufgegeben und belegten das Klettergerüst und die Rutsche, während ihre fröhlichen Rufe über den Spielplatz schallten. Der Junge im Sandkasten hingegen blickte auf, war offenbar von einem der Balkone gerufen worden, denn bereitwillig legte er seine Förmchen in einen Eimer und stiefelte auf die Wohnhäuser zu, eine Spur Sand hinter sich her ziehend, der aus seinem Hosenaufschlag rieselte.
Ein bisschen wehmütig dachte ich an meine Kindheit zurück, geprägt durch Streifzüge über Felder und Wiesen, durch Geschichten von Karl May und dem Altstoffesammeln. Da war die Welt noch in Ordnung gewesen, einfach und überschaubar in der klaren Abgrenzung darüber, was gut und schlecht war, eine Welt, die ich jahrelang unhinterfragt akzeptiert hatte.
Jetzt war ich volljährig, voll inneren Widerspruchs und ohne die Möglichkeit, diesen zu artikulieren und ich fragte mich niedergeschlagen, welchen Weg ich einschlagen sollte, um nicht daran kaputt zu gehen. Die abendlichen Mahlzeiten mit meinen Eltern waren mittlerweile geprägt von einer lauernden Stille, als hütete sich jeder davor, ein falsches Wort zu sagen, nur ab und an unterbrochen von einer höflichen Bitte und deren Antwort, so dass es eine Erlösung war, wenn ich in meinem Zimmer verschwinden konnte.
Mutti hatte es längst aufgegeben, zwischen mir und meinem Vater zu vermitteln. Wenn wir beide alleine waren, war sie von einer aufgesetzten Fröhlichkeit und tat, als wäre nichts passiert. Das nahm ich ihr am meisten übel. Es war deutlich, wo ihre Prioritäten lagen und ich war ein Narr, dass ich insgeheim gehofft hatte, sie würde sich auf meine Seite schlagen.
Doch wunderte mich das wirklich? Sie hatte stets den Staat verteidigt und sich abfällig denen gegenüber geäußert, die nicht bereit waren, ihre Arbeitskraft und Engagement zum Wohle der DDR einzusetzen.
Wie stolz beide gewesen waren, als ich das erste Mal den Wunsch geäußert hatte, in Moskau zu studieren. Das Produkt hatte sich entwickelt wie geplant, der Weg war sorgsam abgesteckt gewesen über die Schule mit erweitertem Russischunterricht hin zum Abitur an der EOS, nun würde der einzige Sohn bald auf dem Weg ins Kernland des Sozialismus sein und damit vorgesehen, nach dem Studium höhere Aufgaben zu übernehmen.
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Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...