8. August, Kathi

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8. August, Kathi

Die erste Euphorie des Fliegens hatte sich gelegt, ich saß entspannt in meinem Sitz und sah hinaus in die unendliche Bläue des Himmels. Der Start war unglaublich aufregend gewesen, denn wir beide waren noch nie geflogen, dieses Gefühl, als wir abgehoben hatten und plötzlich in der Luft schwebten! Ich hatte am Fenster gesessen und begeistert hinausgeschaut, um zu sehen, wie alles immer kleiner wurde, und verstand gar nicht, warum die Dame neben uns mit geschlossenen Augen und einem zusammengepressten Mund dasaß. Eigentlich ist es doch irre, dass so ein schweres Teil aus Metall durch die Luft fliegen kann – ich teilte Susi meinen Gedanken mit und wie immer verstand sie sofort, was ich meinte. Oft genügte ja auch ein Blick und wir wussten, was die andere gerade dachte.

Dann begann Susi aber wieder zu lesen – seit sie mit Markus zusammen war, waren es lustigerweise deutlich weniger Groschenromane geworden – und ich war auf meine eigenen Gedanken zurück geworfen. Seitdem Sascha mir gesagt hatte, dass er im Herbst für achtzehn Monate zum Militär musste, haderte ich noch öfter mit dem Schicksal. Achtzehn Monate – das hieß eineinhalb Jahre fort von Berlin!

Wenn er zurück käme, hätte ich schon längst mein Abi und, wenn alles gut liefe, mit dem Studium angefangen und wäre dann sogar ein Semester weiter als er. Ich nahm mir vor, mich nur an der Berliner Uni zu bewerben, um ihm möglichst nahe sein zu können, aber ich machte mir Gedanken darüber, dass er mich in der ganzen Zeit vergessen könnte. Ein schwacher Trost war, dass ich mir beim Militär wenigstens keine Gedanken um andere Frauen machen musste. Ich schaffte ein gequältes Grinsen und warf dann einen kritischen Blick auf meine Fingernägel, an denen ich aus Nervosität herum gekaut hatte.

Ich seufzte, als ich mich fragte, wie oft wir uns während seines Wehrdienstes überhaupt noch sehen können würden. Susi warf mir einen fragenden Blick zu, verstand sogleich und drückte mir mitfühlend die Hand. Wir hatten manchmal bescheuerten Streit, aber dies war einer der Momente, in denen ich sie hätte drücken können, keiner verstand mich so wie sie. Ich lächelte dankbar zurück, atmete tief durch und ließ meinen Blick erneut aus dem Fenster schweifen: wir flogen gerade über eine Wolkenlandschaft hinweg, die aussah wie ein fluffiges Nest aus Watte, in das ich mich am liebsten unbeschwert hinein geworfen hätte.

Mist, warum wurden uns eigentlich andauernd Knüppel zwischen die Beine geworfen? Als wolle das Schicksal nicht, dass wir zusammen bleiben. Oder war dies ein Test, um unsere Liebe auf die Probe zu stellen? Ich sah zu meinen Eltern hinüber, die auf der anderen Seite des Ganges saßen. Papa war mal fünf Wochen in den USA gewesen und Mama hatte erzählt, dass sie das dann nur noch mehr zusammengeschweißt hätte. Ich pustete Luft durch die geschürzten Lippen. Fünf Wochen waren ja ein Witz, ich sah Sascha schon jetzt nur alle vier Wochen!

Und als wenn das nicht schon genug Sorgen wären, ging mir nicht aus dem Kopf, was Sascha mir vom Leben in der DDR erzählt hatte. Es hörte sich alles andere als erstrebenswert an und so wie ich ihn kannte, konnte ich verstehen, dass er sich dort nicht mehr wohl fühlte.

Sascha war ein Freidenker, hatte zu allem eine Meinung, die er mir gegenüber – und Rainer, wie er zugab – lebhaft vertrat und war unheimlich gut informiert über das, was in der Welt vor sich ging. Ich hingegen... wenn ich mal die Tagesschau mitbekam, war es eher Zufall. Es war echt peinlich und ich hatte längst beschlossen, nach dem Urlaub regelmäßig die Nachrichten zu verfolgen.

Mit den Zehen wippte ich auf dem Boden herum – aus Bequemlichkeit hatte ich die Schuhe von mir gestreift – und griff nach dem Reiseführer, in dem Versuch, meine deprimierenden Gedanken in andere Bahnen zu lenken.

„Freu dich auf Sonne, Sand und Meer", flüsterte mir Susi lächelnd zu. „Schwimmen, so lang die Kräfte reichen."

Euphorisch wedelte sie mit den Armen herum, was weniger nach Brustschwimmen als mehr nach unkoordinierten Flugversuchen aussah. Ich verkniff mir wider Willen ein Lachen. Doch als ihr durch die ausladenden Bewegungen ihr Buch von ihrem Schoß auf den Boden rutschte, konnte ich nicht verhindern, dass ich in Gelächter ausbrach.

„Gut, dass die Getränke noch nicht da waren", kommentierte Susi trocken, wischte sich scherzhaft imaginären Schweiß von der Stirn und bückte sich in aller Seelenruhe nach ihrem Lesestoff, in dem sie sich kurz darauf wieder so vertiefte, dass sie nicht mehr ansprechbar war.


Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt