17. Oktober, Sascha

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Das erste Lebenszeichen seit einer gefühlten Ewigkeit war ein hellblauer Briefumschlag. Telefonisch konnten wir uns nicht mehr erreichen, warum auch immer, und waren daher zu meiner großen Frustration zurückgeworfen auf die Anfangszeit unserer Beziehung, in der unsere Kommunikation neben ihren Besuchen ausschließlich aus Briefen bestanden hatte. Ich setzte meine ganze Hoffnung auf unser nächstes Treffen am 4. November, es gab viel zu berichten, was jedoch per Brief schlichtweg nicht möglich war.

Ich hatte das Gefühl, Kathi seit Monaten nicht mehr gesehen zu haben, dabei waren nur knapp vier Wochen vergangen, aber seit dem 30. September war so viel passiert, dass ich das Gefühl hatte, die Zeit rase im Zeitraffer vorbei. Es war unheimlich spannend, was gerade überall los war, die Montagsdemos hatten etwas in Bewegung gesetzt, von dem man spürte, dass es eine Bedeutung haben könnte. Gleichzeitig war da die Angst davor, wie die Russen reagieren würden.

Ich drückte den Brief fest an mich und ging langsam die Treppen hinauf. Zurück in der Wohnung warf ich mich aufs Sofa und riss ungeduldig den Brief auf. „Liebster Herzbube" - ich schmunzelte angesichts der vertrauten Anrede, die wir vor Monaten eingeführt hatten, mittlerweile gingen die Briefe direkt an meine Adresse, da war es letztendlich egal, ob sie einen Alibinamen oder meinen eigenen benutzte – und las weiter.

Es ist unfassbar, dass wir uns zuletzt am 9. Oktober gesprochen haben. Aber manche Dinge sind, wie sie sind und nicht zu ändern ( Ich hatte den Eindruck, dass Kathi hier gern etwas anderes geschrieben hätte, aber sich nicht getraut hatte ) und deshalb setze ich mein Vertrauen einfach in die Zukunft, auch wenn es schwer fällt, jeden Tag zu überstehen, ohne mit dir liebe Worte austauschen zu können. Ich zehre noch immer von unserem Treffen am 30. September, es war wunderschön mit dir, und mit ein bisschen Glück folgt hoffentlich bald eine Wiederholung.

Eigentlich wollte ich ja einen heiteren Brief schreiben, aber jetzt beim Schreiben realisiere ich, dass das nächste Treffen vielleicht das letzte ist, bevor dein Militärdienst beginnt??? Das war doch irgendwann im November? Ich glaube, das haben wir wohl bewusst in unseren Gesprächen ausgeklammert. War wohl nichts mit heiterem Brief ...  Wir müssen uns sehen! Ich werde es weiterhin versuchen, irgendwann muss es doch klappen!!!

Ich ließ den Brief einen Moment lang sinken. Am 9. Oktober hatte ich vergeblich gewartet, zwei Stunden lang, unter zunehmender Nervosität darüber, was sie abgehalten haben mochte. Doch ich war anscheinend nicht der Einzige gewesen, aus dem Westfernsehen hatte ich später erfahren, dass man den Westberlinern aufgrund der Alarmbereitschaft die Einreise verweigert hatte. Hatte Kathi es inzwischen erneut versucht, wie ihr Brief anklingen ließ? Dann offenbar vergebens, und was bedeutete das für uns?

Die Traurigkeit, die aus diesem so optimistisch begonnenem Brief sprach, machte mich niedergeschlagen. In den Arm hätte ich sie nehmen mögen, Trost spenden, Zuversicht wecken... Es machte mich hilflos, nicht zu wissen, wie ihr ging und weder bei ihr sein zu können noch mit ihr sprechen zu können. Die Hilflosigkeit wiederum machte mich aggressiv, doch ich war zum Glück im Moment allein in der Wohnung und beherrschte mich beim lauten Fluchten zumindest soweit, dass die Nachbarn nichts mitbekamen.

Dann starrte ich ein Weilchen stumm in den graublauen Himmel gen Westen, in dem Bemühen, meine Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Im Moment schienen alle Zeichen tatsächlich gegen uns zu stehen. Der Wehrdienst begann am 27. November, und ja, ich hatte es bewusst aus unseren Treffen und Unterhaltungen rausgehalten, um die wenige Zeit, die wir zusammen hatten, nicht wieder damit zu beschweren, wie ich es schon einmal getan hatte.

Was Kathi nicht wusste, war, dass ich auf keinen Fall vor hatte, in der Kaserne aufzutauchen. Ich hatte noch fünf Wochen und bis dahin würde ich mir etwas einfallen lassen. Es war gerade so viel in Bewegung in diesem Land, irgendeine Möglichkeit würde sich finden lassen, davon war ich überzeugt!

Ich dachte ganz fest an Kathi und versuchte ihr den Optimismus, den ich verspürte, telepathisch zu übermitteln. Dann schüttelte ich leicht amüsiert den Kopf über diesen unsinnigen Gedanken und las schließlich weiter:

Verdammt, Sascha, wie soll es bloß weitergehen...??? 

Ich reiße mich jetzt zusammen, denn leiden tun wir beide bestimmt schon genug, auch ohne dass ich es in Worte fasse.

Hier nun die letzten Handballnachrichten: Vergangenes Wochenende haben wir gegen den Tabellenersten gespielt. Es ging hin und her, mal machten sie ein Tor, dann wir, bis es schließlich 28 zu 28 stand, 2 Minuten vor Schluss. Ich war so kaputt, das kannst du dir gar nicht vorstellen, meine Beine zitterten und ich war so außer Atem, dass ich einfach da stehen blieb, wo ich gerade war, obwohl mich unser Trainer wütend mit einer Handbewegung aufforderte, unser Tor zu verteidigen.

Aber ganz ehrlich, ich war total platt. Dann bekam auf einmal Hannah den Ball und rannte – wo auch immer sie die Kraft her nahm – hinüber zur gegnerischen Seite, wurde von zwei Verteidigern abgedrängt und warf den Ball schließlich zu mir hinüber. Damit hatte keiner gerechnet, am wenigsten ich selbst, aber ich fing ihn zum Glück gerade noch auf, rannte mit dem letzten bisschen Puste, das ich hatte, drei Schritte auf das Tor des Gegners zu und wollte den Ball ins Netz schmettern, aber er entglitt meiner Hand. Die Torhüterin hatte sich schon in die Ecke geworfen, die ich angepeilt hatte, aber der Ball kullerte und kullerte und rollte dann über die Mitte ins Tor... Wir sind Herbstsieger!!!!!!!

Ich konnte es nicht fassen, aber als dann das 29 zu 28 verkündet wurde und abgepfiffen wurde, habe ich wirklich und wahrhaftig geschrien vor Glück, und dann kamen meine Teamkolleginnen und haben mich hochleben lassen, es war einfach Wahnsinn, so ein geiles Gefühl hatte ich noch bei keinem Sieg, wir hingen uns in den Armen und haben vor Freude ein paar Tränen verdrückt, wir, ausgerechnet wir, sind – ich muss es noch mal schreiben, es ist einfach unfassbar – H E R B S T S I E G E R, obwohl Rieke krank war und Heike (unsere beste Stürmerin ) schon seit Wochen mit Gips ausfiel.

Da weiß man, dass sich die ganze Anstrengung gelohnt hat, alle sind bis zum Limit gegangen und ich hatte so was von einem Muskelkater am nächsten Tag, aber dafür hat es sich gelohnt :) Und jetzt habe ich einen Krampf im Arm, weil ich ohne Pause geschrieben habe ;) , aber du siehst, es gibt auch Schönes zu berichten :) Und deshalb schließe ich jetzt auch mit diesem positiven Ergebnis.

Sei gedrückt und geküsst und vieles mehr, denk an mich und schreib mir und hoffen, hoffen, hoffen...

Deine Kathi

Ich schloss die Augen und stellte mir lächelnd vor, wie Kathi das entscheidende Tor machte. Und schwor mir im Stillen, dass ich irgendwann mal einem Spiel beiwohnen würde...

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt