Wir hingen auf dem Bett und diskutierten die Nachrichten. Erst vor ein paar Tagen hatte es eine neue Reiseregelung gegeben, wonach man für Ungarn und die Tschechoslowakei kein Visum mehr brauchte. Außerdem konnte man dreißig Tage im Jahr ins Ausland fahren. Allerdings war die Finanzierung dafür unklar, da man Devisen benötigte, die kaum zu kriegen waren.
„Völliger Quatsch, diese Regelung", sagte Carsten gerade und wackelte mit seinem Fuß, in dessen Strumpf sich unübersehbar ein großes Loch am Zeh befand.
Ich grinste und sekundierte: „In die Welt ohne Geld", ein ironischer Spruch von der Montagsdemonstration am 6. November.
Wir lachten mit betonter Lässigkeit, die die darunterliegende Unzufriedenheit verbarg, und vertilgten den Rest der Schokolade, die Carsten mitgebracht hatte. Wir hatten uns vorhin nach langer Zeit mal wieder in der Stadt getroffen und waren zusammen etwas Trinken gewesen, was sich ohne Rainer irgendwie ungewohnt angefühlt hatte. Ich hatte wenig Neigung gehabt, den restlichen Donnerstag alleine ausklingen zu lassen, was nur wieder zu Grübeleien geführt hätte, und hatte Carsten daher angeboten, noch mit zu mir zu kommen.
Es war mir mittlerweile egal, was meine Eltern davon hielten. Sie sagten auch nichts mehr. Meine Mutter hatte mich nur beredt angeguckt, aber Carsten immerhin mit einem Minimum an Höflichkeit gegrüßt. Sie hatten wohl endlich verstanden, dass sie mir nicht mehr in mein Leben reinzureden hatten. Vielleicht warteten sie auch einfach nur ab, bis ich eingezogen wurde und dachten sich, dass man bis dahin auf unnötige Streitereien verzichten konnte.
Die Unterhaltung über das Reisen fortsetzend fragte Carsten: „Und, willst du jetzt in die Tschechoslowakei?"
Ich hatte in der Tat darüber nachgedacht, sogar mehrmals in den letzten Tagen. Es war noch gar nicht so lange her, dass ich diese Chance herbeigesehnt hatte. Doch jetzt war hier so viel in Bewegung geraten... Es herrschte eine Art Aufbruchsstimmung und man hatte das Gefühl, hier vor Ort etwas bewirken zu können.
Wenn bloß der blöde Wehrdienst nicht wäre... Es gab eigentlich gar keine andere Wahl, als nun endlich die DDR zu verlassen, um ihm zu entgehen. Doch irgendetwas hielt mich zurück...vielleicht war es der Gedanke an die Endgültigkeit eines Entschlusses, der mir vor dem Hintergrund der ganzen aktuellen Veränderungen im Moment nicht so ganz gerechtfertigt erschien. Aber womöglich war es riskant, das hinauszuzögern...
„Christa Wolf hat dazu aufgerufen, hier zu bleiben", bequemte ich mich schließlich zu einer Reaktion, weil ich nicht gewillt war, ihm die Gedanken mitzuteilen, die mir durch den Kopf gingen, und beobachtete, wie er albern mit seinem bloßen Zeh wackelte.
„Du hast da ein Loch", sagte ich dann.
„Ich weiß", gab Carsten gelassen zurück. „Wenn das jetzt die Mauer wäre, wäre es gut."
Wir grinsten uns an. Es war nicht dasselbe wie mit Rainer, aber immerhin nahe dran.
„Ich muss los", sagte Carsten mit einem Blick auf die Uhr, die mit großen Schritten in Richtung dreiundzwanzig Uhr wanderte, und gähnte unverhohlen. Während er morgen wieder früh aufstehen musste, schwelgte ich noch in dem Luxus, ausschlafen zu können. Faul erhoben wir uns von meinem Bett und ich begleitete ihn in den Flur. In diesem Moment klingelte das Telefon, was mich angesichts der Uhrzeit zusammenzucken ließ. Schrecken und Hoffnung durchfuhren mich gleichermaßen, vielleicht war es Kathi! Ich stand direkt in der Nähe des Telefons und griff daher sofort zum Hörer, um meinen Eltern zuvor zu kommen, doch diese schienen das Klingeln gar nicht gehört zu haben.
„Alexander Brenner", meldete ich mich aufgeregt, als mir auch schon Rainer Stimme entgegen schallte:
„Die Grenzübergänge in Berlin sind offen!"
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Herz in den Wolken
Roman d'amourDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...