12. September, Kathi
Es war genau zehn Tage her und ich hatte noch immer nichts von Sascha gehört.
„Er ist bestimmt nicht mehr in der DDR und hat wahrscheinlich deine Nummer verloren und kann daher nicht anrufen", hatte Susi versucht, mich zu trösten.
„Aber dann kann er doch schreiben", hatte ich unglücklich gejammert, denn dass er meine Adresse nicht auswendig wusste, konnte ich mir nicht vorstellen.
„Ja, aber auch das dauert", hatte Susi vernünftig erwidert und mich tröstend in den Arm genommen.
Schule machte noch weniger Spaß als sonst. Ich quälte mich morgens aus dem Bett und konnte im Unterricht an nichts anderes denken, als an die ständige Frage, was bloß mit Sascha los war. Inzwischen war ich fast überzeugt davon, dass er still und heimlich Schluss gemacht hatte, aber ich begriff nicht, wieso. Anfang August war doch alles in bester Ordnung gewesen.
Offenbar irritierten Susi und ich Markus durch widersprüchliches Verhalten, spröde in der Schule, ganz anders am Nachmittag, aber das war jetzt mein geringstes Problem. Die nächsten Tage würde er außerdem genug mit seinem Austauschschüler beschäftigt sein, das war mir persönlich natürlich überaus recht. Susi sah das naturgemäß anders, hätte begeistert auf Französisch mit den Austauschschülern parliert, aber hatte es noch immer nicht geschafft, Markus die Wahrheit zu sagen und spielte daher weiterhin mich, und ich war nun mal nicht so gut in Französisch.
Wenn man vom Teufel spricht, dachte ich, als ich die neueste Nachricht auf dem Vertretungsplan las.
„Wir haben heute Französisch mit dem Leistungskurs zusammen", verkündete ich mit einem tiefen Seufzer.
„Da wo die Franzosen sind? Prima", tat Nicki spontan ihre Freude kund.
Ich schnaubte. „Nicht wirklich."
Na super, dachte ich ironisch, das hat mir gerade noch gefehlt. Und bereitete mich innerlich auf das erneute Theaterspielen vor. Eigener Freund fort, dafür mit einem anderen so tun, als ob, wie dämlich war das denn. Ich sollte vielleicht Geld von Susi nehmen, dachte ich mit einem kurzen Aufblitzen von Galgenhumor.
Und dann brach die fünfte Stunde an und der gesamte Grundkurs trottete in den anderen Gebäudetrakt hinüber, hin zum Klassenraum C, aus dem bereits deutsch-französisches Stimmengewirr erklang. Die schmächtige Anne, die bereits seit der 5. Klasse meine Klassenkameradin war und in all den Jahren ihre Schüchternheit nicht abgelegt hatte, klammerte sich an meinen Arm.
„Ich werde keinen Ton herausbringen" flüsterte sie.
„Ich auch nicht", gab ich genervt zurück.
Der Klassenraum, den wir betraten, war schon jetzt gut gefüllt. Zusammen mit uns Zwölfklässlern wurde es nun richtig voll. Wie dabei Unterricht möglich sein sollte, war mir schleierhaft und suchend sah ich mich um. Markus gab mir unauffällig ein Zeichen, er hielt sich jetzt deutlich zurück, aber er schien mir dennoch einen Platz frei gehalten zu haben. Erleichtert lächelte ich ihm zu.
Nicki zuckte in ulkiger Art mit den Schultern und quetschte sich auf die Fensterbank. Ich schlängelte mich an den Tischen vorbei hinüber zu Markus und strich ihm scheu über die Schultern.
„Sanne, das ist Pierre", stellte Markus den lockigen Typen an seiner Seite vor.
„Pierre, c'est Suzanne, ma copine" Er gab sich betont sachlich, aber seine Augen beobachteten mich fragend.
Ich lächelte ihn so glücklich an, wie ich nur konnte, griff entschlossen nach seiner Hand und grüßte Pierre vorsichtig mit „Salut".
„Ein schöner französischer Name", erwiderte Pierre und begrüßte mich mit je einem Kuss auf die Wange, aber seine anschließenden Worte ging in den ersten Sätzen von Herrn Holz unter, der auf Französisch alle willkommen hieß und sagte, dass es ihn freue, dass jetzt auch die Erstsemester Gelegenheit hatten, mit den französischen Gästen zusammenzutreffen. Sie seien frei, alle Fragen zu stellen, die ihnen auf der Zunge lagen.
Schweigen folgte diese Aufforderung, dann nahm sich Nicki ein Herz und fragte, wie lange die Schule in Frankreich dauerte. Kurz darauf hatten die meisten Schüler ihre Scheu abgelegt und es entspann sich eine lebhafte und durchaus nicht langweilige Unterhaltung, in deren Folge ich automatisch etwas kommentierte.
Im gleichen Moment hätte ich mir auf die Zunge beißen können über den blöden Fehler, den ich beim Sprechen gemacht hatte, von meinem grauenhaften deutschen Akzent ganz zu schweigen. Es war mir schleierhaft, wie Susi es schaffte, so zu klingen, als hätte sie bereits Jahre in Frankreich verbracht. Selbstredend hatte sie ebenfalls Französisch als Leistungsfach gewählt. Sie und Markus passten wirklich gut zusammen, ging es mir durch den Kopf, nur blöderweise wusste Markus nichts davon.
Ich fühlte Markus Blicke auf mir, wenn es sich nicht verhindern ließ, dass ich etwas sagen musste und kam auf diese Weise schon bald ziemlich ins Schwitzen. Neidisch lauschte ich seinen flüssig hervorgebrachten Kommentaren, die selbstredend keinen Unterschied zu denen der Franzosen aufwiesen, und war sehr froh, als die Stunde endlich vergangen war. Immerhin war ich so abgelenkt gewesen, dass ich nicht einmal an Sascha gedacht hatte.
Der Schmerz kam jedoch mit Macht zurück, als ich gemeinsam mit Markus zu den Rädern schlenderte – für mich war nun Unterrichtsschluss und er hatte es sich trotz meines vorsichtig geäußerten Widerstandes nicht nehmen lassen, mich zum Fahrradständer zu begleiten – wo er mich entschlossen in die Arme zog und mir einen langen Kuss auf den Mund gab. Ich zwang mich, ruhig stehen zu bleiben, merkte, wie mir die Wärme ins Gesicht stieg und schickte einen stillen Hilferuf an Susi. Mein Gott, so konnte das nicht länger weitergehen!
„Wir haben ja im Moment leider nicht so viel Zeit füreinander", entschuldigte sich Markus, ohne meine Zurückhaltung, fern von jedem Publikum, zu kommentieren. Er musste meine Schwester echt für sehr gehemmt halten. Puh, ich wollte im Moment gar nicht wissen, was die beiden taten, wenn sie alleine waren. Susi war da ohnehin nur wenig mitteilsam.
„Aber wenn die Franzosen wieder weg sind...", fuhr Markus entschuldigend fort.
„Ist schon okay", gab ich lässig zurück und schaffte ein Lächeln. „Wir haben ja schließlich Telefon."
An das dann natürlich immer Susi ging.
„Also dann erst am Samstag wieder live und in Farbe, was?", lachte Markus und küsste mich erneut so intensiv, als wollte er die fehlenden Tage wettmachen. Notgedrungen erwiderte ich den Kuss. Und stellte mir die ganze Zeit vor, es wäre Sascha...
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Herz in den Wolken
Любовные романыDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...