20. September, Kathi

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20. September, Kathi

Mit unterkreuzten Beinen saß ich auf meinem Bett, einen Block auf den Knien und einen Stift in der Hand. Eigentlich hätte ich Vokabeln lernen sollen, verfasste aber stattdessen einen Brief an Sascha. Es war schwierig, bei jedem zweiten Satz dachte ich darüber nach, ihn umzuformulieren, weil ich mir mehr denn je bewusst war, dass auch andere die Briefe lasen. Von nun an musste ich auch an Saschas echte Adresse schreiben, was die Gefahr mit sich brachte, dass seine Eltern die Briefe entdeckten und vielleicht sogar lasen.

Um das zu vermeiden hatte Sascha vor, jeden Tag am frühen Nachmittag in den Briefkasten zu gucken, denn es war absolut nicht einschätzbar, wie lange es dauerte, bis meine Briefe ankamen. Ich verzog das Gesicht, als ich mir vorstellte, wie er sich mit den Krücken die Treppen hoch und runter quälen musste, wenn der Fahrstuhl noch immer nicht funktionierte, aber es gab eben keine andere Möglichkeit. Immerhin hatte er mittlerweile Gehgips, was das Bewegen etwas einfacher machte. Sagte er jedenfalls.

Unruhig kaute ich an meinem Stift herum und dachte darüber nach, ob es nicht im Moment besser wäre, das Schreiben einzustellen. Denn ein Gutes hatte sein Unfall: wenn ich mich direkt nach der Schule ans Telefon hängte, konnte es mir gelingen, eine freie Leitung zu erwischen und zu ihm durchzukommen. Wir hatten festgestellt, dass es einfacher war, wenn ich anrief. Vermutlich war es auch weniger auffällig.

Dieser bescheuerte Unfall! Wenn ich nur daran dachte, dass er wie sein Freund Rainer längst im Westen hätte sein können... Erneut stiegen mir Tränen in die Augen. Es war einfach nicht fair. Niedergeschlagen schaute ich aus dem Fenster in die hereinbrechende Dunkelheit.

Am Telefon klang Sascha jedes Mal überaus gelassen, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ihm das abnehmen sollte. Jedes Thema, das auch nur ansatzweise in Richtung aktuelle politische Lage ging – denn die Zahl der Menschen, die aus der DDR flüchteten, wurde jeden Tag größer – und zu dem Gedanken führte, dass sich womöglich in der DDR etwas ändern würde, hatte er bei meinem Besuch schließlich entschlossen ignoriert. Ich vermutete, dass das einfach seine Art war, mit der Verzweiflung umzugehen.

Gestern hatte ich den von Sascha in aller Eile im Krankenhaus verfassten Brief erhalten, abgestempelt in der BRD. Wieder einmal verfluchte ich das Schicksal, das es offenbar nicht gut mit uns meinte. Ob Sascha schon wusste, dass Rainer es geschafft hatte? Ich setzte an, es ihm zu schreiben, zögerte jedoch. Auch das sollte man wohl lieber nicht in einen Brief schreiben, der höchstwahrscheinlich geöffnet wurde.

Draußen hatte es mittlerweile angefangen, strömend zu regnen, was hervorragend zu meiner deprimierten Stimmung passte. Ich musste einfach beim nächsten Besuch nochmal mit Sascha über Ausreisemöglichkeiten sprechen. Jetzt, gehandicapt durch das Gipsbein, war sowieso jegliche Planung illusorisch. Aber auch sein Knie würde irgendwann geheilt sein. Ich klammerte mich an die Hoffnung, dass er auch im nächsten Monat noch in die Tschechoslowakei würde fahren können, um dort zu versuchen, in der Prager Botschaft unterzukommen, so wie es derzeit viele DDR-Bürger taten.

Wahllos kritzelte ich Schnörkel in mein Vokabelheft, die mittlerweile drohten, die fein säuberlich niedergeschriebenen Wörter zu überdecken. Ich hatte angefangen zu jobben und hatte vor, Sascha alles Westgeld geben, das mir zur Verfügung stand. Damit würde ich beim Grenzübertritt ein Risiko eingehen – schon der Gedanke, das erneut zu machen, brachte mein Herz zum Flattern – aber was war das schon für ein Risiko im Vergleich zu dem, was Sascha täglich allein dadurch riskierte, dass er mit mir zusammen war! Als Westbürgerin konnte mir wohl kaum etwas Schlimmes passieren, ich würde mir einfach eine gute, naive Story ausdenken müssen.

Tunlichst hatte ich es vermieden, dergleichen meinen Eltern gegenüber zu äußern, ich hatte so das Gefühl, dass sie mir diese Aktion verbieten würden. Aber es gab ja nichts anderes, was ich für Sascha tun konnte. Der Scherz, den er im Sommer über Flucht im Kofferraum gemacht hatte – wenn es denn ein Scherz gewesen war – ging mir durch den Kopf. Ich hatte genug Grenzübergänge von der DDR in die Bundesrepublik mitgemacht, um zu wissen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war, die ausreisenden Autos wurden so oft kontrolliert.

Mir vorzustellen, dass Sascha diese Art oder eine Flucht mit dem Boot in Erwägung ziehen würde, machte mir weiterhin Angst. Andererseits hatte ich inzwischen begriffen, dass das Leben in der jetzigen Weise für Sascha nicht mehr vorstellbar war. Es war für ihn keine Frage mehr ob, sondern nur wann und wie er der DDR den Rücken kehren konnte.

„Essen ist fertig."

Papas Ruf ließ mich hochschrecken, offenbar war Mama inzwischen nach Hause gekommen, ohne dass ich es bemerkt hatte. Wie normal es doch auf einmal geworden war, dass Papa den Haushalt übernommen hatte, zumindest was das Einkaufen, Kochen und Tischdecken anging. Er schien gestern ein Vorstellungsgespräch gehabt zu haben und war seitdem ganz guter Dinge, hoffentlich klappte es. Bei dem ganzen DDR-Mist, der mich so belastete, wäre es schön, wenn wenigstens hierbei ein wenig Ruhe einkehren würde. Nicht auszudenken, wenn wir unser Haus verkaufen müssten...

Mein Magen knurrte vernehmlich und ich schlenderte daher in die Küche hinüber, wo mich der gedeckte Abendbrottisch erwartete.

„Marion, Sanne, kommt ihr?!" rief Papa laut in den Flur und zwinkerte mir zu.

Ich setzte mich und schnappte mir schon einmal ein Stück Gurke. Papa tat es mir nach.

Wer nicht kommt zur rechten Zeit...". „...der muss seh'n, was übrig bleibt", vervollständigte ich vergnügt und verschwörerisch grinsten wir uns an.

Dann tauchte auch der Rest der Familie auf und in entspannter Atmosphäre tauschten wir unsere Tageserlebnisse aus. Ich musste unwillkürlich daran zurück denken, wie sehr Susi und ich uns immer gestritten hatten, als wir noch jünger gewesen waren. Die Mahlzeiten waren daher oft weniger schön als mehr stressig gewesen. Aber jetzt waren wir ja fast erwachsen.

„Sag mal, Sanne, wann stellst du uns eigentlich mal deinen Markus vor?", wollte Papa wissen. „Ihr seid doch schon, wie lange, zwei Monate zusammen?"

„Fast drei", nuschelte Susi mit vollem Mund.

Ich lächelte in mich hinein. Susi war es nicht unrecht, dass unsere Eltern in den letzten Wochen so mit sich selbst beschäftigt waren, dass sie wenig darauf achteten, was ihre Töchter so trieben, sonst hätten sie schon längst verlangt, Markus einmal kennenzulernen.

„Lade ihn doch einmal hierher ein. Wir könnten am Wochenende zusammen essen", schlug Mama vor.

Susi murmelte etwas Unverständliches, von dem ich nur entnahm:„...schon verplant".

„Dann guckt doch mal, wann es passt", ergänzte Mama und war trotz Susis fehlendem Enthusiasmus nicht davon abzubringen. „Ich bin ja schon neugierig."

Sie lächelte und angelte sich eine Scheibe Brot.

„Mach ich", antworte Susi mechanisch ohne den Blick zu heben und beschäftigte sich ostentativ damit, Butter auf ihr Brot zu schmieren.

„Ich kenne ihn ja", versuchte ich meinen Zwilling zu unterstützen. „Der ist nett. War in meinem Philosophiekurs."

Susi warf mir einen Blick zu, in dem Dankbarkeit und Vorwurf zugleich lagen. Wahrscheinlich störte sie sich an dem Wort nett, das zwar freundlich, aber nichtssagend war. Doch sie schwieg, für unsere Eltern immerhin schien mein Bürgen im Moment ausreichend zu sein, sie vertieften das Thema nicht mehr weiter und als sich das Gespräch schließlich irgendwelchen Bekannten meiner Eltern zuwandte, schaltete ich ab und versank in meine eigenen Gedanken.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt