Kathi
Missmutig schob ich am späten Nachmittag das Rad durch den Garten, schmiss es dann gereizt an die Hauswand und zückte den Schlüssel für das Fahrradschloss – der natürlich nicht funktionierte. Typisch! Ich versuchte es ein paar Mal erfolglos, bis ich merkte, dass ich den Briefkastenschlüssel in der Hand hielt. Ich hätte platzen können vor Wut, aber stattdessen warf ich das Schlüsselbund mit voller Wucht auf den Boden, so dass es klirrte, und starrte zornig darauf, als sei es an allem Schuld.
Susi steckte den Kopf aus dem Fenster.
„He Kathi, ist dir eine Laus über die Leber gelaufen", neckte sie mich gutmütig, verstummte aber, als sie mein finsteres Gesicht sah.
Noch immer genervt von den Unbilden des Lebens im Allgemeinen und meiner misslichen Lage im Besonderen schloss ich die Tür auf und wurde von einem Schwall klassischer Musik empfangen. Auch das noch, Carmen, die Lieblingsmusik meines Vaters. Das konnte ich jetzt überhaupt nicht vertragen.
„Muss das sein?", motzte ich, „Ich hasse Dramen!"
„Wenn dich in der Schule etwas geärgert hat, brauchst du es nicht an uns auszulassen", reagierte Papa gelassen und machte keine Anstalten, die temperamentvolle Musik leiser zu drehen.
Seine Ruhe brachte mich noch mehr auf die Palme. Eigentlich suchte ich nur einen Grund, an jemandem meine schlechte Laune auszulassen und erwiderte deshalb aggressiv:
„Ich will das aber nicht hören!", und stoppte die Cassette.
Damit hatte ich Papas Aufmerksamkeit. Trotzig sah ich ihn an und rührte mich nicht. Endlich mal etwas, worauf ich heute Einfluss hatte. Dass ich mich gerade wie eine Fünfjährige aufführte, war mir egal.
„Katharina!"
Papas Ton war streng, aber ich hielt seinem Blick kampfeslustig stand. Sollte er doch etwas sagen, ein Streit war mir nur willkommen. Wieso war er überhaupt zu Hause? Susi war inzwischen hinzu gekommen, hatte ihren Blick verwundert von einem zur anderen schweifen lassen und stellte die Musik schließlich wieder an. Ich warf ihr einen bösen „Warum fällst du mir in den Rücken"-Blick zu.
„Danke, Sanne, aber ich hatte das eigentlich von Katharina erwartet.", kam es von Papa.
„Ihr könnt mich alle mal!", schnauzte ich wütend, machte auf dem Absatz kehrt und lief hinauf in mein Zimmer, wo ich die Tür mit einem Knall zuwarf.
Was für ein grässlicher Tag. Böse guckte ich auf das Foto in meinem Zimmer, das mich, Biggi und Nicki vor dem Kölner Dom zeigte. Das war letztes Jahr auf der Klassenfahrt entstanden. Eine vergnügte Biggi umarmte mich und Nicki und alle drei zwinkerten wir lustig in die Kamera. Es klopfte vorsichtig an der Tür – drei Mal kurz, ein Mal lang, drei Mal kurz: Susi. Da schob sie auch schon die Tür auf und blieb abwartend im Türrahmen stehen.
„Das Leben ist so sinnlos", murmelte ich selbstmitleidig, ohne sie anzusehen.
„Wieso?", wollte Susi wissen, trat ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Ich ließ mich auf mein Bett fallen und sah an die Decke.
„Mein Freund ist hinter so einer blöden Mauer gefangen, meine Freundin lässt mich links liegen und mein Vater ist total rücksichtslos."
„Hm..." machte Susi mitfühlend und verstand den Rest ohne weitere Worte. „Biggi oder Nicole?"
Ich seufzte und drehte mich zu ihr um.
„Biggi. Sie ist sauer, weil ich ihr nichts von Markus gesagt habe."
Susi biss sich auf die Lippen und bekannte dann:
„Das ist meine Schuld. Er hält mich ja für dich. Tut mir leid."
Sie guckte betreten.
„Nee, war ja meine Idee", entgegnete ich ehrlich und fügte leise hinzu:„Nur das habe ich nicht vorausgesehen..."
Susi ließ sich auf dem Schreibtisch nieder und ließ die Beine baumeln.
„Woher weiß sie es denn eigentlich?"
Ich starrte meine Schwester einen Moment lang mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Neugierde an und gab dann resigniert zu:
„Er hat mich in der Pause geküsst."
„Was!?", quiekte Susi überrascht, konnte aber nicht verhindern, dass sich ihre Mundwinkel kräuselten, als ihr die Absurdität der Situation bewusst wurde.
„Ja, du! Das war ein Überfall aus heiterem Himmel. Was habt ihr denn bloß gestern gemacht? Ich dachte, ihr wart im Kino."
Auch ich musste nun schmunzeln und Susi wurde ein bisschen rot. „Wir hatten ja noch einen Spaziergang nach Hause...."
Was sie dabei gemacht hatten, konnte ich mir lebhaft denken. „Beim nächsten Mal warnst du mich aber vor, okay?"
Susi atmete geräuschvoll aus.„Wir treffen uns am Samstag. Dann erzähle ich es ihm. Wenn du bis dahin...?" Verlegen sah mich meine Schwester an.
"Na klar", beruhigte ich sie ohne zu zögern. „Die zwei Tage werde ich schon aushalten. Und danach kann ich auch mit Biggi alles wieder gerade biegen. Aber morgen will ich unbedingt nach Ost-Berlin. Bis Sonntag kann ich nicht mehr warten!"
Susi hüpfte vom Tisch und folgte mir runter ins Wohnzimmer, denn jetzt war dringend eine Entschuldigung angebracht. Die Musik war inzwischen aus und Papa las Zeitung.
„Tut mir leid wegen vorhin, Papa", entschuldigte ich mich.
Er blickte auf, zum Glück war der Ärger aus seinem Gesicht verschwunden, aber er sah irgendwie müde aus.
„Schon gut", murmelte er und lächelte abwesend.
Ich wartete eine Anstandsminute, bevor ich säuselnd fortfuhr:
„Papa, ich muss unbedingt morgen nach Ostberlin. Ich vermisse Sascha so schrecklich. Könnt ihr mir nicht 25 DM geben, damit ich zu ihm fahren kann?"
Ich lächelte ihn so lieb an, wie ich konnte, aber dieses Mal verfehlte es seine Wirkung. Papa seufzte nur und rief dann laut:
„Silke, kommst du mal?"
Ich warf Susi einen verwunderten Blick zu. Was kam jetzt? Mama verließ die Küche und trocknete sich im Gehen die Hände an einem Geschirrhandtuch ab. Sie sah ernst aus. Auffordernd wies Papa auf das Sofa und nervös setzen wir uns, so dicht, dass sich unsere Schultern berührten. War jemand gestorben? Papa räusperte sich.
„Ich muss euch etwas sagen. Unser größter Auftraggeber ist abgesprungen. Meine Firma hat daher jetzt Konkurs anmelden müssen."
Susi und ich schwiegen und guckten verständnislos, bis Papa fortfuhr:
„Das heißt, die Firma macht dicht. Ab 1. August bin ich arbeitslos."
Entsetztes Schweigen folgte dieser Offenbarung. Mutti sah betreten, aber nicht überrascht, zu Boden, sie hatte es natürlich schon gewusst. Susi fand als erstes die Worte wieder.
„Was ist mit dem Mallorca-Urlaub?", wollte sie wissen.
Papa lächelte beruhigend.
„Der bleibt natürlich. Das meiste ist ja bereits bezahlt. Der Rest geht vom Sparkonto. Wir lassen uns doch den Urlaub nicht dadurch vermiesen."
Dann wurde er wieder ernst. „Aber das heißt natürlich, dass wir von jetzt an sparen müssen. Extras wie der Besuch in der DDR sind da nicht mehr drin. Es tut mir leid." Er sah mich mit einem um Verständnis werbenden Blick an.
Tief enttäuscht senkte ich den Kopf und war den Tränen nahe. Es war wirklich ein rabenschwarzer Tag heute.
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Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...