Enttäuscht ließ Markus den Hörer auf die Gabel sinken, denn bei Sanne ging niemand ans Telefon. Entweder waren alle jetzt schon unterwegs oder sie waren es in der Nacht gewesen und schliefen daher noch. Zu ihnen selbst war die Nachricht vom Öffnen der Grenzen erst heute Morgen aus den Radionachrichten gedrungen. Seine Mutter ging immer zeitig ins Bett, da sie früh los musste, und er selbst schaute nur ab und an mal Nachrichten im Fernsehen. Zu blöd, dass er nicht gestern Abend noch angerufen hatte, als in den Radionachrichten die Grenzöffnung angedeutet worden war. Wer dachte aber auch daran, dass das bereits nachts erfolgen würde.
Es war eine wirklich sensationelle Nachricht und Markus verspürte nicht die geringste Lust, in die Schule zu gehen, wenn gerade direkt bei ihnen in Berlin Geschichte geschrieben wurde. Aber alleine wollte er nun auch nicht losziehen. Er war versucht, seine Freunde anzurufen, hatte den Hörer schon in der Hand, ließ ihn aber wieder sinken. Konnte es vielleicht sein, dass Sanne trotzdem auf dem Weg zur Schule war? Vielleicht würde er sie dort finden, dann konnten sie immer noch losfahren. Oder er fuhr einfach direkt zu ihr nach Hause.
„Tschüss, ich fahr los", rief Ines und knallte die Tür zu.
Ihre Mutter hatte ihr untersagt, alleine in die Stadt zu fahren und versprochen, früher auf der Arbeit Schluss zu machen und dann mit ihr zusammen loszufahren. Ines fuhr daher in die Schule. Seufzend schnappte sich Markus seine Jacke und verließ nun ebenfalls das Haus.
Ines war schon weg, hatte aber nachlässig die Schuppentür offen gelassen. Während er sorgfältig die Tür zusperrte, war ihm, als hörte er im Haus das Telefon klingeln. Er verharrte einen Moment, aber es war alles leise, offenbar hatte er sich geirrt, und euphorisch schwang er sich daher aufs Fahrrad.
Es war, als hätte ein Weichzeichner das Leben in ein warmes Licht getaucht. Alle Menschen, die er passierte, schienen bester Stimmung. Wie eine solch tolle Nachricht doch alle beflügeln konnte, dachte er lächelnd, und radelte über eine grüne Ampel. In der Ferne tauchte bereits die U-Bahn-Brücke auf, wo man aufpassen musste, denn der Radweg war alt und uneben, und er wich deshalb regelmäßig auf den Fußweg aus. Er bremste ab, als vor ihm ein Bus seine Fahrgäste auf den Gehweg spie, und fuhr zum Ausweichen einen großen Bogen, der ihn direkt vor den U-Bahn-Eingang brachte.
Beim Vorbeifahren stutzte er: war das nicht Sanne da hinten im Eingangsbereich? Hastig hielt er an und blickte zurück. Sie war es tatsächlich. Erfreut wendete er das Rad, aber was er dann sah, versetzte ihm einen Schock. Sanne war nicht allein. Sie schlang die Arme um den Nacken eines Jungen neben ihr und versank in einem langanhaltenden Kuss.
Markus umfasste den Lenker so hart, dass sich seine Fingerknöchel weiß färbten. Es durchfuhr ihn heiß und kalt, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Der Junge trug genau diejenige Kleidung, die ihn deutlich als einen von drüben auswies. Markus schlucke schwer an einem Kloß im Hals. Freund in der DDR hallte es in seinem Kopf. Also war es wahr, was er als dämliches Gerücht abgetan hatte.
Ihm war auf einmal so schlecht, dass er hätte kotzen können. Er war genauso hintergangen worden wie seine Mutter. Und es wäre nie aufgefallen, wenn nicht die Grenzen geöffnet worden wären. Wie in Trance stieg er auf sein Rad und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Er achtete weder auf den Verkehr noch auf Fußgänger und es war sein Glück, dass die Passanten auswichen und ihn die Autofahrer nur wütend anhupten. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur ein Satz ratterte in Wiederholungsschleife durch seinen Kopf: Sanne hat mich betrogen.
Als er zu Hause ankam, hatte die Wut die Oberhand gewonnen. Er sprang vom Fahrrad, schmiss es auf den Rasen und trat aggressiv gegen den Mülleimer, der, da erst gestern geleert, scheppernd umfiel und den Müll der letzten Stunden auf dem Weg verteilte. Dann trat er ein paar Mal kräftig gegen die Haustür, da sie sich nicht schnell genug öffnete. Doch als Ventil für seine Wut reichte das noch nicht. Er polterte die Treppen nach oben, stürmte in sein Zimmer, riss die Fotos von Sanne von der Wand und trampelte darauf herum, bis das Glas zersplitterte und die Rahmen zerbrachen.
Wie konnte sie ihm das antun! Sie wusste doch, warum sie nach Berlin gezogen waren. Jetzt war klar, warum er nie zu ihr nach Hause gedurft hatte.
Markus schaltete seine Musik auf die höchste Lautstärke, die es gab, und als die Bässe ihn einhüllten, schleuderte er aufgebracht ein Buch nach dem anderen durchs Zimmer, während es in seinem Kopf nur stumm „Nein, nein, nein!" schrie. Doch die Musik übertönte das Poltern, und die alte Dame von nebenan wunderte sich lediglich über die extrem laute Musik, die sie so gar nicht von ihren Nachbarn gewohnt war.
In Kürze sah Markus' Zimmer aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Erschöpft sank er zu Boden, doch der Schmerz blieb unerträglich. Schließlich stand er auf, ging wütend und verzweifelt an die Bar im Wohnzimmer und fand dort, was er suchte. Fluchend kämpfte er mit dem Korkenzieher, danach nahm er die geöffnete Rotweinflasche mit in sein Zimmer, setzte sie an seine Lippen und trank, bis der Alkohol begann, seine Sinne zu umnebeln und den Schmerz zu verdrängen.
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Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...