8. Oktober, Sascha

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Ein paar Sonnenstrahlen schoben sich kurz durch die dichten Wolken, als ich durch die geöffnete Haustür schlüpfte, die gerade von zwei heraustretenden Kindern nachlässig offen gelassen worden war. Suchend ließ ich meinen Blick schweifen. Ich war hier schon einmal gewesen, es musste Jahre her sein, aber vage meinte ich mich zu erinnern, dass Silke im zweiten Stock wohnte, was sich kurz darauf bestätigte.

Es dauerte, bis die Tür nach meinem Klingeln geöffnet wurde, aber vielleicht kam es mir auch nur so vor, weil ich ungeduldig darauf wartete, dass sich meine Besorgnis als unbegründet herausstellen würde. Der blonde Lockenkopf einer Frau mit Brille, die der Schürze nach, die sie gerade trug, mit Kochen beschäftigt zu sein schien, sah mich verhalten freundlich an, ohne mich offenbar einordnen zu können.

„Guten Morgen, ist Silke da?"

Ich strahlte sie mit einer Lockerheit an, die meinem inneren Aufruhr kein bisschen Rechnung trug und die verhehlte, wie zerschlagen ich mich fühlte. Das stundenlange Auf-den-Beinen-sein gestern hatte meiner Verletzung nicht gut getan, und dass ich mich jetzt notgedrungen ohne Krücken durch die Gegend kämpfen musste, machte die Sache auch nicht besser. Ich hatte sie noch kürzlich verflucht, wäre jetzt aber unterwegs froh über etwas Halt gewesen, doch seit dem abrupten Ende der gestrigen Demonstration waren beide auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

„Ja, ist sie", bestätigte die Mutter zu meiner großen Erleichterung, während sie mich mit wachsendem Begreifen nachdenklich musterte und schließlich fragte:

„Waren Sie nicht mit Silke in einer Klasse? Sind Sie nicht der Sohn von den Brenners?"

Ihre Miene wurde auf mein Nicken hin zusehends distanzierter, was offenbar der Tatsache geschuldet war, dass mein Vater sowohl durch seine Funktion als auch durch seine aufbrausende Art bei einigen Leuten nicht viel Vertrauen erworben hatte. Mit einem unwirschen „Kommen Sie erst mal rein" ließ sie mich jedoch eintreten.

Während sie verschwand, um Silke zu holen, betrachtete ich die Familienfotos, die in dem langen schmalen Flur hingen. Aus einem Raum zu meiner Rechten drang gedämpftes Gemurmel und dann Silkes helle Stimme:

„Der ist nicht so!"

Im gleichen Moment betrat sie den Flur und fiel mir stürmisch um den Hals.

„Zum Glück bist du heil und unversehrt", schnaufte sie erleichtert und fügte im gleichen Atemzug hinzu:

„Hast du Hunger?"

„Wenn du so fragst..."

Ich folgte ihr in die Küche, wo sie mit geübten Bewegungen drei Scheiben Brot mit Käse belegte, währenddessen ihre Mutter am Herd hantierte, verheißungsvoll zog der Geruch nach etwas Gebratenem durch den Raum. Wir verspeisten unsere Brote und unterhielten uns über die Belanglosigkeiten des vergangenen Schuljahres, zu denen Silkes Mutter hin und wieder einen reservierten Kommentar abgab, bis wir dann schließlich in Silkes Zimmer verschwanden.

Silke ließ sich auf ihr Bett fallen und klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich.

„Bin froh, dass dir nichts passiert ist", gab sie zu und brachte daher als Erste die gestrige Demonstration zur Sprache. Sie stellte einen Fuß auf das Bett und umfasste ihr Knie, während ihr Blick in den Raum hinein glitt und nichts Konkretes zu erfassen schien.

„Ist bei dir alles gutgegangen? Und was ist mit Carsten?", wollte ich dann wissen – zu ihm hätte die Fahrt um einiges länger gedauert und ich vertraute darauf, von Silke etwas erfahren zu können.

Sie winkte ab, was wohl lässig wirken sollte, aber als sie ihre Hände dann wieder fallen ließ, offenbarte die Geste eher eine gedrückte Stimmungslage.

„Ich habe mich durchgeschlängelt und bin in eine Seitenstraße gelaufen, bis ich nicht mehr konnte und dann schließlich die U-Bahnstation runter und in eine Bahn gesprungen, die gerade kam."

Sie seufzte schwer und schob fahrig den Pony zur Seite. „Mann, ich hatte ganz schön Angst."

„Ja, das war echt nicht ohne", bestätigte ich und behielt für mich, dass ich ebenfalls eine Scheißangst verspürt hatte.

„Carsten ... auf einmal war er weg."

Sie ließ ihren Kopf in die Hände fallen und klang daher etwas dumpf, bis sie wieder aufblickte. Überrascht bemerkte ich die verräterisch glänzenden Augen, als sie mit einer Stimme, die etwas schuldbewusst klang und immer leiser wurde, ergänzte:

„Ich habe ihn nicht mehr gesehen. Wollte aber auch einfach nur fort. Ich hoffe, er ist da auch noch weggekommen..."

Das hoffte ich auch! Ich wollte mir gar nicht ausmalen, was ihm womöglich zugestoßen sein konnte! Nur wie aus weiter Ferne bekam ich mit, wie Silke fragte:

„Und du?"

Tonlos berichtete ich, wie ich mich in einem der Mietshäuser verschanzt hatte, wo ich mich dank eines offenen Kellerraumes unter einem Berg Decken und ähnlichem hatte verbergen können, als die Polizei begonnen hatte, einen Blick in die Treppenhäuser zu werfen.

Allein bei dem Gedanken daran, dass das auch böse hätte enden können, brach mir erneut der Schweiß aus. Eine Ewigkeit lang hatte ich nicht gewagt, mich zu rühren, während die Luft um mich herum immer wärmer und stickiger geworden war, bis ich endlich das Gefühl gehabt hatte, dass die Bedrohung an mir vorüber gegangen war.

Dennoch war ich die nächsten Stunden zur Sicherheit im Keller geblieben, um der Möglichkeit zu entgehen, in dieser Gegend nachts als Verdächtigter auf der Straße aufgegriffen zu werden.

„Und morgens bist du dann nach Hause?"

Sie rückte ihre Brille zurecht und blickte mich angesichts der Erkenntnis, dass die Staatsmacht gestern tatsächlich mit Gewalt auf die Demonstration reagiert hatte, ernüchtert an. Jegliche Spur der fröhlichen Lässigkeit, die ich von ihr gewohnt war, war im Moment von ihrem Gesicht verschwunden.

Angelegentlich betrachtete ich die weißen Blümchen auf der dunklen Gardine, die bestimmt noch aus Silkes Kinderzeit stammte, und schloss dann kurz:

„Nee, bin zur Datsche nach Pankow gefahren" – dass sie Kortmanns gehörte, tat jetzt nichts zur Sache. „Keine Lust auf eine Standpauke meiner Eltern."

Dass sie sich womöglich außerdem Sorgen über mein Fernbleiben machen könnten, verdrängte ich schnell. Um den Schein zu wahren, hatte ich gestern noch einen Zettel dagelassen, gemäß dessen ich auf einer Geburtstagsfeier sein würde, die lange dauern würde. Ich hatte keine Ahnung, ob sie mir das abgenommen hatten. Es war wohl sinnvoll, dass ich mich nun mal zu Hause blicken ließ...

Zunächst wurde ich allerdings zunehmend von Unruhe gepackt. Ich musste wissen, was mit Carsten war! Hastig erhob ich mich und murmelte:

„Ich muss zu Carsten!"

Silke nickte verständnisvoll und ergänzte entschlossen:

„Ich komme mit."

Noch bevor ich entgegnen konnte, dass das nicht nötig sei, stand sie auf und griff nach einer Jacke, die über der Stuhllehne hing, und achselzuckend willigte ich in ihre Begleitung ein.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt