11. Oktober, Susanne

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„Maaar-kussss!" Ines Stimme hätte Toten aufwecken können. „Deine Freundin ist da!"

Sie schloss die Haustür hinter Susanne und machte mit einem anzüglichen Grinsen dreimal hintereinander einen Kussmund, als er im Flur auftauchte. Susanne verdrehte die Augen und dankte Gott dafür, dass sie keine deutlich jüngere Schwester hatte.

"Klingt eher nach Jonas, mit dem du dich wieder vertragen hast", parierte Markus und lächelte Susanne entgegen.

Ines zeigte ihm einen Vogel und verschwand in der Küche. Markus und Susanne folgten langsam.

„Hallo Frau Bruhn, kann ich Ihnen etwas helfen?", bot Susanne guterzogen an, aber Frau Bruhn verneinte nur lächelnd.

„Ist schon alles auf dem Tisch, setzt euch."

Die Lasagne schmeckte vorzüglich und angeregt unterhielten sich alle über die Pläne für die Herbstferien. Markus Mutter wollte mit ihren Kindern einen Besuch bei Verwandten in der Nähe von Stuttgart machen, Susannes Eltern jedoch hatten keinen Urlaub für den Herbst geplant. Nach dem Essen scheuchte Frau Bruhn ihren Sohn an die frische Luft.

„Du bist durch die ganze Lernerei schon ganz blass um die Nase", kommentierte sie, was dazu führte, dass Markus eine Grimasse zog, aber dann einsichtig dem Vorschlag seiner Mutter folgte, so dass sie im Nu in der schneidend kühlen Luft eines Herbsttages standen, die das bunte Laub der Bäume zum Leuchten brachte. Eng umschlungen schlenderten sie die Straße entlang und schwiegen miteinander, ohne im Augenblick das Bedürfnis nach einem Austausch zu haben.

„Ich hätte mal die Kamera mitnehmen sollen", stellte Markus schließlich nachdenklich fest und wies auf einen besonders prächtigen rotleuchtenden Ahornbaum.

„In den Ferien hast du ja noch genügend Gelegenheit", erwiderte Susanne und dachte betrübt daran, dass sie sich dann eine ganze Woche lang nicht sehen konnten. Sie hatten bereits jetzt wenig Zeit für einander, da Markus fast ständig am Lernen war, und sie hätte sich natürlich gefreut, ihn wenigstens in den Ferien mehr sehen zu können.

„Kannst du nicht doch hier bleiben?", fragte sie unvermittelt und sah zu ihm hoch.

Markus schüttelte den Kopf.

„Meine Mutter besteht darauf", antwortete er und ergänzte bedauernd:

„Sie will halt einen Urlaub mit uns allen zusammen machen. Obwohl ich doch sowieso dort lernen muss."

Er seufzte und kickte einen größeren Kieselstein beiseite, der mitten auf dem Weg gelegen hatte. Susanne sah ihn von der Seite an. Noch vor einigen Monaten hatte er die Schule und die Hausaufgaben mit einer Handbewegung abgetan, aber inzwischen versuchte er durch intensives Arbeiten, seine Abiturnote zu verbessern.

Er hatte sich vor kurzem auf einmal entschieden, BWL zu studieren und benötigte dafür einen guten Notendurchschnitt, die durchwachsenen Noten der ersten beiden Semester musste er deshalb kompensieren. Diese überraschende Zielstrebigkeit fand Susanne zwar schon irgendwie beeindruckend, aber der Nebeneffekt war, dass er inzwischen weniger Zeit für sie hatte als es ihr lieb war.

Telefonate waren nicht ausreichend, mussten jetzt aber vermehrt herhalten. Nervös kaute Susanne auf ihrer Lippe herum.

„Mein Papa ist im November zwischendurch auf Dienstreise, aber magst du am 17. November vielleicht zum Essen kommen?"

Das war noch lange hin, aber ihre Mutter hatte gemeint, wenn man sich nicht mal auf einen Tag festlegte, würde es ja nie etwas werden.

„Klar, gern", stimmte Markus zu und lächelte sie kurz an, aber auch er legte inzwischen weit weniger Dringlichkeit über das Kennenlernen an den Tag, als er es noch Ende September getan hatte, wo sie sich darüber zerstritten hatten.

Susanne hätte über den Aufschub erleichtert sein können, aber tatsächlich empfand sie keine Beruhigung darüber. Jeden Tag sah sie Kathi an, dass es ihr nicht gut ging. Sascha war seit zwei Wochen telefonisch nicht mehr zu erreichen, was zwar monatelang Normalität gewesen war, aber da selbst die wenigen Telefonate, die ihnen aufgrund der miserablen Telefonverbindungen in den Osten in den letzten Wochen gelungen waren, zu einem festen Bestandteil ihrer Beziehung geworden waren, war die nun wieder neu aufgetretene Unmöglichkeit der Kommunikation für Kathi schwer zu verkraften.

Und mit ihrer Lügengeschichte belastete Susanne ihre Zwillingsschwester noch zusätzlich. Susanne fühlte sich mies dabei und ihr schlechtes Gewissen machte sie so manches Mal reizbar und fahrig, obwohl sie eigentlich normalerweise ein sehr umgänglicher Mensch war.

Eine Amsel hüpfte über den Weg vor ihnen, als sie in einen kleinen Park abbogen und aus der Ferne war der Ruf einer Türkentaube zu hören. Bis zum 17. November waren es noch fünf Wochen. Susanne hatte einen Kloß im Hals. Das konnte sie unmöglich von Kathi verlangen. Sie musste vorher handeln.

Bellend lief ein Hund an ihnen vorbei, gefolgt von einem schimpfenden Herrchen, laut „Luna, zu Fuß!" brüllend. Die nachfolgende Stille, als das Kläffen und Zetern verklang und auch die Autos nur noch gedämpft zu hören waren, war umso präsenter. Susanne ballte die Hände zu Fäusten in ihrer Jackentasche und atmete konzentriert ein. Ohne jeglichen Plan begann sie zögernd:

„Markus... ich muss dir was sagen."

Markus gab ein leises Murmeln von sich, als Zeichen, dass er zuhörte. Susanne verstummte dennoch erst einmal nervös und schloss eine Sekunde die Augen, während sie langsam weiter schlenderten.

„Ich..." sie schluckte und holte noch einmal tief Luft, kam aber nicht dazu, ihren Satz fortzusetzen, denn Markus blieb stehen und unterbrach sie mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck.

„Mäuschen, es tut mir leid, aber irgendwie habe ich heute einfach keinen freien Kopf für was anderes außer Chemie. Können wir das in ein paar Tagen vielleicht besprechen?"

Susanne senkte den Kopf und nickte stumm. Sie wusste nicht, was größer war, ihre Erleichterung, die Lüge doch nicht zugeben zu müssen oder die Verzweiflung, noch ein wenig länger damit leben zu müssen.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt