Susanne
Während sich ihre Schwester, zur Tarnung mit Schulsachen versehen, auf den Weg zur S-Bahn machte, radelte Susanne so früh los, dass sie Markus noch vor der Schule abfangen konnte. Sie freute sich, unerwartet schon früh ein paar Minuten mit ihm verbringen zu können, und reckte ihr Gesicht den paar Sonnenstrahlen entgegen, die sich durch den wolkenbedeckten Himmel schoben.
Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr, Markus kam in raschem Tempo um die Kurve gefegt. Susanne winkte ausgelassen und Markus bremste direkt vor ihr.
„Das ist ja eine angenehme Überraschung", kommentierte er lächelnd, nachdem sie ihn stürmisch umarmt hatte. „Bist du heute Morgen aus dem Bett gefallen?"
„Ich habe dich einfach vermisst", offenbarte Susanne fröhlich und schwang sich wieder auf ihr Rad. „Wo ist denn Pierre?"
„Die machen heute einen Ausflug in die DDR."
Mehr war nicht nötig, um Susannes Freude noch einen Schub zu versetzen, denn die letzten Tage hatte sie ihren Freund kaum zu Gesicht bekommen, da die Nachmittage und Abende samt und sonders den gemeinsamen Aktivitäten mit den Franzosen vorbehalten waren. Ihr verliebter Blick verweilte ungehindert auf seiner schlanken Statur und dem energisch nach vorn gestreckten Kinn, als sie nebeneinander fahrend der Straße folgten, die wegen ihrer Lage in einem ruhigen Wohnviertel erfreulich wenig Autoverkehr aufwies.
Hin und wieder erwiderte Markus ihren Blick und noch immer erfasste Susanne ein leises Staunen darüber, dass das, wovon sie im Frühling geträumt hatte, tatsächlich in Erfüllung gegangen war. Was sie allerdings unweigerlich dem Gedanken näher brachte, dass sie Markus endlich einmal die Wahrheit sagen musste. Doch allein der Gedanke daran, dass das das Aus für ihre Beziehung bedeuten konnte, sorgte bei Susanne für schweißnasse Hände.
Und so unbefriedigend es auch war, dass Kathi ihren Freund im Moment öfter sah als sie selbst, so sehr bot doch die Fortführung des Rollenspiels Susanne die Möglichkeit, dieses wunderbare Gefühl der Geborgenheit weiter zu genießen. Es ließ sie großzügig über die Wangenküsse hinweg sehen, die Kathi ihrem Freund anstandshalber in der Schule gewähren musste, und es ließ sie auch die zunehmenden Diskussionen mit Markus ertragen, dem das nicht genug war.
Sie kamen früh in der Schule an, schlossen ihre Räder an den Fahrradständern unter dem Wellblechdach an und schlenderten händchenhaltend auf ein paar alte Kastanien auf dem Schulhof zu, um die letzten zehn Minuten vor Beginn des Unterrichts noch ein wenig für sich zu sein.
Angetan hob Susanne eine paar besonders glänzende Kastanien vom Boden auf, begutachtete sie einen Moment und zielte dann damit übermütig in Markus' Richtung. Mit einer raschen Bewegung ergriff Markus jedoch ihre beiden Hände und umschloss sie fest. „Gefangen", konstatierte er lächelnd.
Susanne sah mit schräg gehaltenem Kopf zu ihm hoch. „Kann ich durch eine Kaution freikommen?"
„Weiß nicht..." zögerte Markus mit seiner Antwort und sah dann mit einem frechen Grinsen auf sie herab, „...käme auf die Höhe an."
Da stellte sich Susanne auf die Zehenspitzen, reckte den Kopf und gab ihm einen langen, leidenschaftlichen Kuss.
„Wow", entfuhr es Markus anschließend überrascht und gab ihre Hände wieder frei. „Dafür würde ich dich glatt noch einmal einfangen."
„Das kannst du auch einfacher haben."
Wieder reckte sich Susanne, schlang die Hände um seinen Nacken und küsste ihn erneut. Zur ihrer Verwunderung runzelte Markus jedoch anschließend die Stirn und schob sie sachte ein wenig fort, so dass er ihr ins Gesicht schauen konnte.
„Irgendwie bist du wie Feuer und Wasser", gab er irritiert von sich. „Total gegensätzlich. Ich denke, du magst das in der Schule nicht. Wie soll ich wissen, wann es dir genehm ist und wann nicht?"
Susanne verzog die Mundwinkel zu einem hilflosen Lächeln, wusste aber nichts darauf zu erwidern, denn in ihrem Kopf überschlugen sich jetzt die Gedanken. Markus starrte sie noch immer ratlos an und fügte dann hinzu:
„Als hättest du zwei verschiedene Persönlichkeiten."
Er lächelte, um seinen Worten die Spitze zu nehmen, während Susannes Lächeln gefror. Jetzt oder nie, dachte sie verzweifelt. „Das liegt daran, dass..." begann sie hastig.
„Heh, Turteltäubchen, es hat geläutet!"
Benni machte mit einem übertriebenen Winken auf sich aufmerksam und machte keine Anstalten, weiter zu gehen, schien stattdessen auf Markus zu warten.
„Ach, ist egal", schloss Markus wegwerfend, gab ihr noch einen raschen Kuss, nahm ihre Hand und zog sie mit sich zum Eingang ins Hauptgebäude. Leicht benommen folgte Susanne ihm.
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Herz in den Wolken
RomanceDas verflixte Liebesleben - ist in der geteilten Stadt Liebe über die Mauer hinweg möglich? Katharina stellt fest, dass das schwieriger ist als gedacht. Zumal der Zorn ihres Freundes Sascha über die Begrenzung seiner Freiheit ständig größer wird. Un...