30. September, Kathi

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Kathi

Es musste aufhören! Ich hatte es satt, in der Schule immer weiter so tun, als sei ich Markus' Freundin. Wütend pfefferte ich ein paar alte Unterlagen in den Papierkorb. Wieso konnte Susi ihm nicht endlich reinen Wein einschenken?!

Seitdem ich aus Ostberlin zurück war, brodelte es in mir. Auf der langen Fahrt zurück nach Hause war mir klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Es war Sascha gegenüber einfach nicht fair. Und ich hatte auch keine Lust, in der Schule immer darauf acht zu geben, Markus nicht über den Weg zu laufen, denn sobald ich ihn allein irgendwo traf, wo nicht viel los war, forderte er mehr als nur einen flüchtigen Kuss, und das konnte ich ihm im Prinzip nicht verdenken.

Ich hätte mich auch nicht damit zufrieden gegeben, Sascha nur einen kurzen Kuss auf die Lippen zu drücken. Wenn man es recht bedachte, war es überhaupt erstaunlich, dass Markus sich auf diesen Wunsch immer noch – meistens – einließ. Ihm musste wirklich viel an meiner Schwester liegen. Aber ehrlich gesagt war es inzwischen eine Scheiß-Situation.

Ich ließ mich auf's Bett plumpsen und drückte das Patchwork-Kissen, das Susi, Mama und ich mal gemeinsam kreiert hatten, mit schlechtem Gewissen an mich, denn schließlich hatte ich den Vorschlag für den Rollentausch gemacht und Susi dazu geraten. Aber natürlich hatte ich wieder mal nicht von hier bis zur Tür gedacht.

Grimmig presste ich die Zähne aufeinander. Klar, am Anfang war es ein Spaß gewesen, ein Streich, wie wir ihn früher immer mal wieder diesem und jenen gespielt hatten. Unsere Eltern hatten keine Ahnung, wie oft wir sie getäuscht hatten. Auch unsere Lehrer waren lediglich positiv überrascht, wenn wir in Fächern, in denen wir schlecht waren, mit einer überraschend guten Note in einer Arbeit vieles wieder ausglichen.

Schmunzelnd dachte ich daran, dass mich nur einmal eine Lehrerin auf die etwas veränderte Handschrift angesprochen hatte, ratlos und gleichzeitig neugierig, aber ich hatte nur mit den Schultern gezuckt und sie hatte mir einen etwas bekümmerten Blick zugeworfen und wahrscheinlich gedacht, dass ich an einer leichten Persönlichkeitsspaltung litt.

Entschlossen warf ich das Kissen beiseite und sprang vom Bett. Es wurde höchste Zeit, dass ich mit Susi einmal Klartext redete. Meine Andeutungen der letzten Zeit hatte sie nicht verstanden oder nicht verstehen wollen. Stört es sie gar nicht, dass mich ihr Freund küsst, dachte ich kopfschüttelnd und schob unruhig ein paar Zeitschriften hin und her.

Wir waren eben doch nicht so gleich, wie alle dachten, nur weil wir uns zum Verwechseln ähnlich sehen. Ich hätte das Ganze schon längst beendet, mit Sicherheit. Aber Susi war eben so sensibel, sowohl was sich selbst als auch was andere anging. Ich wollte sie eigentlich nicht hängen lassen, aber irgendwann ging es eben nicht mehr und das musste ich ihr jetzt endlich mal klar machen!

In mir war so viel Wut, dass ich das Gefühl hatte, daran zu ersticken. Das lag nicht nur an Susi, sondern mindestens genauso viel oder auch vor allem an dieser furchtbaren DDR-Grenze, die mich von Sascha fernhielt, und gegen die ich nichts machen konnte, und angesichts dessen ich mich einfach nur so verdammt hilflos fühlte! Tränen stiegen mir in die Augen.

War es denn so viel verlangt, einfach nur eine ganz normale Beziehung zu haben, so wie die anderen auch, jedes Wochenende etwas miteinander zu unternehmen und sich ab und zu auch unter der Woche zu treffen?

Neulich hatte ich meine Eltern über meine Beziehung zu Sascha reden hören, dass es besser für mich wäre, hier in Westberlin einen Freund zu haben. Leise hatte ich mich wieder weggeschlichen; ich hatte es geahnt, dass sie es nicht toll fanden, dass ich einen Freund aus der DDR hatte.

Frustriert starrte ich auf die Urkunden, die ich fein säuberlich an die Wand gepinnt hatte. Die Punktspiele hatten bereits wieder begonnen, zu blöd, dass Sascha nicht zuschauen konnte. Ich seufzte schwer und starrte hinaus ins triste Grau. Warum war der Idiot bloß vor ein Auto gelaufen? Warum hätte es nicht statt seiner Rainer treffen können, der befand sich jetzt schon seit Wochen in der Bundesrepublik.

Schnell schob ich diesen gemeinen Gedanken beiseite. Sascha selbst schien sich inzwischen mit der Situation abgefunden zu haben, war jetzt anscheinend entschlossen, sich einer Demonstration anzuschließen. Ich hatte es ihm nicht gezeigt, sondern Verständnis geäußert, aber tatsächlich hatte ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich daran dachte, denn das war ja schließlich ganz anders als bei uns.

Ich erinnerte mich daran, wie sie in Peking vor einigen Monaten auf demonstrierende Studenten geschossen hatten, nur weil die öffentlich ihre Meinung gesagt hatten. Nervös nahm ich eine Haarsträhne in den Mund, kaute darauf herum und fragte mich, ob das nicht in der DDR ebenfalls passieren könnte. Lieber nicht genauer darüber nachdenken...In solchen Momenten war ich definitiv froh, im Westen zu leben.

Als eine Tür knallte, schreckte ich hoch und ging hastig in den Flur hinaus. Susi hängte gerade ihre Jacke auf und wandte mir daher den Rücken zu. Im Licht der Deckenlampe glänzte ihr nasser Pferdeschwanz.

„Regnet es draußen?", fragte ich dumm von oben und Susi wandte sich um und erwiderte eine Spur gereizt:

„Nee, hier drinnen."

Ich ging nicht näher auf ihre Stimmung ein und registrierte kaum, dass sie ziemlich mitgenommen aussah.

„Susi!", sagte ich fordernd, weil ich es endlich loswerden musste, und kam die Treppe hinab, „Ich muss mit dir reden!"

„Hat das nicht Zeit?", wehrte sie unwillig ab und wischte sich eine feuchte Strähne aus der Stirn.

In diesem Moment vernahmen wir Mamas aufgeregte Stimme aus dem Wohnzimmer.

„Sanne, Kathi, kommt mal schnell!"

In ihrem Tonfall schwang irgendetwas mit, das schwer zu interpretieren war. Begeisterung, Freude, Erstaunen? Fragend sah ich Susi an und ebenso fragend blickte sie zurück. Gleichzeitig betraten wir das Wohnzimmer.

Papa bedachte uns mit einem breiten Lächeln.

„Setzt euch, sie bringen eine Sondersendung im Fernsehen."

Mein Gesicht fiel.

„Und dafür rufst du uns?", warf ich Mama vor.

Meine Schwester hingegen ging zum Sessel und ließ sich hinein fallen. Tolles Ausweichmanöver, dachte ich ironisch und warf ihr einen wütenden Blick zu.

Mama schwieg, hatte meine Äußerung offenbar gar nicht gehört und sah, die Unterarme aufgeregt auf die Oberschenkel gestützt, wie gebannt auf den Fernseher, aus dem Jubelschreie und Klatschen zu hören war.

„Pscht!" machte Papa und deutete mit einem Nicken zum Bildschirm.

Genervt verdrehte ich die Augen und sah dann wie befohlen zur Flimmerkiste hinüber. Dort standen Leute auf einem Balkon, die Gesichter konnte ich nicht erkennen, weil es schon dunkel war, aber ich hörte die Stimme von Außenminister Genscher, der verkündete:

"... zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise..." Der Rest des Satzes ging in ohrenbetäubendem Jubeln unter.

„Heißt das, sie können in die Bundesrepublik ausreisen?", hörte ich Susis ungläubige Stimme.

„Das heißt es!", lachte Mama und wandte sich strahlend zu uns um.

Angesichts dieser Wahnsinnsnachricht vergaß ich meinen Ärger und gerührt stiegen mir die Tränen in die Augen. Sie hatten es geschafft! Das wochenlange Warten der DDR-Flüchtlinge in der Prager Botschaft hatte sich ausgezahlt! Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Augen und konnte gar nicht mehr aufhören, überwältigt zu lächeln. Susi sprang auf und umarmte mich. Ebenso bewegt wie ich raunte sie mir zu:

„Erst Ungarn. Jetzt Prag. Und bestimmt wird es weiter Löcher im Eisernen Vorhang geben, du wirst sehen. Und dann wird auch Sascha hierher kommen können."

„Und wir öffnen dann einen Sekt", versprach Papa mit so viel Gewissheit in der Stimme, als könnte er in die Zukunft blicken. Ich nickte nur stumm, immer noch ergriffen von den Emotionen, die man auf dem Bildschirm sehen konnte und ein bisschen traurig darüber, dass Sascha nicht unter ihnen sein konnte. Die Leute schrien und jubelten und riefen immer wieder „Genscher, Genscher." Und mit Susis Worten im Ohr fing ich an, ganz fest die Daumen zu drücken.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt