22. Juli, Sascha

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„Guck mal, die da."

Rainer wies auf eine langbeinige Schwarzhaarige, die nur ein paar Meter entfernt von uns vorbei schlenderte.

„Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen."

Ich schmunzelte, mit den Worten war Rainer groß – solange wir unter uns waren – aber er hütete sich, wirklich eines der Mädchen anzusprechen. Dabei war hier auf dem Campingplatz kein Mangel daran. Ich wandte den Kopf und folgte mit den Augen den gebräunten Beinen, die den Blick geradewegs auf knapp sitzende Shorts lenkten.

„Ich geb ihr die Note 1,5" gab ich schließlich mein Urteil ab – ein Spiel, das wir spielten, seitdem wir begonnen hatten, uns für das andere Geschlecht zu interessieren.

„Nee, Mann, 1,2." widersprach Rainer und sah der Biene nach, bis sie unseren Blicken entschwunden war.

Für ein Weilchen hingen wir schweigend unseren Gedanken nach, dann, von plötzlicher Unruhe getrieben, erhob ich mich und verkündete:

„Ich gehe zum Wasser".

Ohne mich noch einmal nach Rainer umzusehen, schritt ich durch das Buchenwäldchen, in dem sich der Ückeritzer Campingplatz errichtet befand, in Richtung Ostsee, die bereits durch die Baumstämme leuchtete. Hier war der Strand nur einen schmalen Streifen breit, übersät mit Steinen, Tang und Resten der von den Campingbesuchern mitgebrachten Dinge, die entweder achtlos liegen gelassen oder herbei geschwemmt worden waren. Die Wellen schwappten in stetigem Rhythmus auf den Sand. Ich nahm ein paar flache Steine auf und schleuderte sie gekonnt auf das Wasser, so dass sie einige Hüpfer machten. Links von mir kreischte eine Möwe aufgebracht und flog schließlich fort auf die offene See hinaus.

Ich spürte die Sonne warm auf meinen Schultern, blieb stehen und sah der Möwe ein wenig wehmütig hinterher. Es war heiß, aber ich konnte mich dennoch nicht dazu aufraffen, mich in die Fluten zu stürzen. Stattdessen ließ ich mich auf einen großen Felsbrocken nieder, den wohl mal die Eiszeit angeschwemmt haben mochte. Der Stein war heiß, von der Sonne aufgeheizt wie ein Backofen. Ich zog die Knie an, streckte die Zehen in die Luft und ignorierte die Aufforderung meiner Gehirnzellen, mich in den Schatten zu gegeben und schon bald rann daher der Schweiß meinen Nacken hinab.

Gedankenverloren sah ich nach Osten hinüber, irgendwo dort, in dem diesigen Sommerwetter nicht zu sehen, lag die polnische Küste. Gleichsam kam mir dabei eine andere Osteeküste in den Sinn, denn ich hatte mir kürzlich eine Karte der Ostsee angeschaut. Vom Darß aus war es gar nicht so weit bis Dänemark... Oder wäre Hiddensee geeigneter, wo ich mich immerhin gut auskannte?

Ich wollte diesen Gedanken vertiefen, überlegen, wie eine Überquerung zu bewerkstelligen wäre, wie das Boot dorthin zu kriegen wäre, aber mein Gehirn weigerte sich, eine sachliche Analyse durchzuführen, als ob irgendetwas in mir Widerstand gegen diese verräterischen Gedanken leistete. Ich konnte doch nicht ernsthaft darüber nachdenken, aus der DDR abzuhauen, bei den Risiken... Vorsichtig legte ich die Beine auf dem warmen Felsen ab.

Dann drängte sich Kathis Gesicht in meine Gedanken. Ihre blonden Locken, die der Wind ihr so gern ins Gesicht blies, weshalb sie die Haare meist mit einem Zopf oder mit einem Reif bändigte. Das strahlende Lachen, wenn sie mich ansah. Ihre Lippen, die sich so zart anfühlten. Es war zwei Wochen her, dass wir uns gesehen hatten und es würde weitere zwei Wochen dauern, bis wir uns wieder trafen, Anfang August, was noch verdammt lang hin war. Das war echt kein Zustand.

Wieder sah ich auf die Ostsee, die heute spiegelglatt da lag, sich aber auch ganz stürmisch präsentieren konnte. Ob es zu schaffen wäre...?

Inzwischen war die Hitze nicht mehr zum Aushalten. Ich sprang daher von dem Felsen herunter und schlenderte ein paar Meter weiter dorthin, wo ein paar Birken dünne Schatten auf den Sand warfen. Meine Augen ruhten auf der See vor mir, aber meine Gedanken waren längst auf Hiddensee, wo ich ein paar Mal Urlaub gemacht hatte.

Als sich mir eine Hand auf die Schulter legte, erschrak ich so heftig, als hätte jemand meine Gedanken gelesen. Doch es war nur Rainer, der neben mir aufgetaucht war.

„Warst du gar nicht im Wasser?", fragte er und beäugte mich neugierig, ohne mein Erschrecken auch nur mit einem Wort zu kommentieren.

Ich überging seine Frage und kämpfte einen stillen Kampf mit mir. Vertrauen und Freundschaft waren ein Zweiklang, das eine war ohne das andere undenkbar. Und dennoch: wie weit konnte Freundschaft gehen? Rainer stand schweigend neben mir und hatte seinen Blick ebenso wie ich auf das Meer gerichtet.

Ich sah mich verstohlen um und verkündete dann hastig, leise: „Ich muss hier weg."

„Wer nicht?", gab Rainer lässig zurück, doch als ich ihn ansah, verstummte er.

„Ich kann hier nicht monatelang ein Land lernen zu verteidigen, an das ich nicht mehr glaube", fuhr ich fort und mit jedem Wort wuchs die Entschlossenheit in mir.

„Heißt?", fragte Rainer und sah mich lange an.

Ich hielt seinem Blick stand. Ich hatte mich für das Vertrauen entschieden und hoffte, dass das kein Fehler sein würde.

„Einen Weg finden", erwiderte ich knapp und wandte den Blick wieder dem Wasser zu.

Rainer kannte mich lange genug, um zu wissen, was mir durch den Kopf ging und fragte nur:

„Ostsee?"

Ich nickte schweigend. Rainer beobachtete für ein paar Momente die Wellen, die sich am Strand brachen. Schließlich warnte er ernst, ohne mich dabei anzusehen:

„Das ist doch Wahnsinn. Die bewachen doch nachts die Strände."

„Weiß ich."

Ich hob einen Stein auf und schleuderte ihn so weit wie möglich in die See.

„Aber nicht überall. Und nicht ständig."

„Wenn sie dich erwischen, kommst du nach Rostock. Da kann dir auch dein Vater nicht helfen", gab Rainer zu bedenken.

„Dann darf man sich eben nicht erwischen lassen!", entgegnete ich sachlich. Ich fühlte mich plötzlich aufgeräumt und fast ein bisschen trotzig. Allein der Gedanke vermittelte mir ein erstes Gefühl von Freiheit. Sich nicht mehr verstellen zu müssen. Und eine ganz normale Beziehung zu haben, unbelastet von Politik... Ein Lächeln spielte um meine Mundwinkel.

Rainer sah sich um, doch es war noch immer niemand in der Nähe.

„Du meinst das ernst, oder?"

Ich drehte mich um und fixierte ihn mit meinem Blick. „September ist die beste Zeit...", erläuterte ich langsam, „...da ist die Ostsee noch warm und morgens liegt oft Nebel auf dem Wasser..."

Rainer kratzte sich am Arm. „Ich weiß nicht ...", gab er gedehnt zurück. „Das ist ziemlich riskant."

„Wer etwas erreichen will, muss auch etwas wagen", konterte ich, ein wenig von oben herab.

Rainers Blick blieb zweifelnd und ich musste mich wohl oder übel damit abfinden, dass von meinem Freund keine Ermutigung geschweige denn Zustimmung zu erwarten war. Schade eigentlich, ich hatte ein bisschen gehofft, dass Rainer sich für die Idee erwärmen würde.

„Haben deine Eltern nie daran gedacht, einen Ausreiseantrag zu stellen?", wechselte ich schließlich das Thema. Rainer schüttelte den Kopf.

„Bis jetzt nicht. Sie vertrauen darauf, dass sich hier noch etwas ändern wird. Jetzt mit Gorbatschow..."

Etwas aufgeregter fuhr er fort:„Merkst du nicht auch, dass sich die Stimmung irgendwie dreht? Mit der Stimmenzählung bei der Wahl, womit die Wahlfälschung jetzt bewiesen ist? Das war doch bisher undenkbar."

Ich zuckte nur mit den Schultern.

„Hast du China vergessen", fragte ich dann lakonisch und spielte auf den Platz des Himmlischen Friedens an, bei dem das chinesische Militär auf protestierende Studenten geschossen hatte.

Rainer schwieg dazu einen Moment. Dann hellte sich sein Gesicht auf.

„Du weißt doch, dass wir nach Ungarn fahren...", begann er.

Ich nickte.

„Hol dir doch ein Visum und komm mit", forderte Rainer mich auf. Er sah sich noch einmal verstohlen um und ergänzte: „Von da ist es ja vielleicht auch leichter wegzukommen..."

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt