3. Dezember, Markus

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3. Dezember, Markus

Schon von weitem waren Schlachtgesänge zu hören und um sie herum wimmelte es von Fans in aller erdenklichen Fanausstattung und Markus genoss bereits jetzt die Stimmung. Sascha hatte sich einen rot-weißen Schal um den Hals geschlungen und schwenkte ausgelassen Kathis Hand, als sie sich dem Stadion näherten. Eine fröhlich singende Fangruppe kam ihnen entgegen, deren Mitglieder alle ein Bier in der Hand hatten und ihnen munter zuprosteten. Mit erstaunten Augen schaute Susanne sich um, nahm die Polizisten wahr, die in einiger Entfernung in Schutzmontur herumstanden und wirkte ein wenig, als wäre ihr der ganze Auflauf nicht so geheuer.

Als Sascha vor zwei Wochen den Vorschlag gemacht hatte, gemeinsam zu einem Spiel von Union Berlin zu gehen, war die Reaktion der Mädchen verhalten gewesen. Beide hatten kein Interesse an Fußball, aber Markus hatte die Idee sofort klasse gefunden. In Frankreich war er Fan von Girondins Bordeaux gewesen, aber nicht so sehr, dass es ihn regelmäßig ins Stadion gezogen hätte.

In Berlin waren die meisten seiner Bekannten natürlich Herta-Fans, auch einige Anhänger von Bayern München gab es darunter. Markus selbst war auch einmal zu einem Spiel der Herta gewesen, doch der Funke war nicht übergesprungen. Nun war er gespannt, wie sich die Union präsentierte.

„Meinst du, die befürchten Krawalle?", flüsterte Sanne in sein Ohr und wies beklommen auf die Polizisten.

„I wo", versicherte Markus und drückte ihre Schulter beruhigend, „Das ist normal bei einem Spiel."

Auf einem Kantstein standen leere Flaschen säuberlich aufgereiht, vor einer roten Mauer mit dem gepinselten Schlachtruf Eisern Union, als hätte sich jemand an einer künstlerischen Darstellung versucht. Spannung lag in der Luft, als die vielen Fans Richtung Eingang drängten, eine Mischung aus Vorfreude, Aufregung und Begeisterung lag auf ihren Gesichtern.

„Lass uns mit den Mädchen am besten nach oben gehen", schlug er Sascha vor, als sie sich mit der Menge zu den Aufgängen schoben, denn Sanne war deutlich anzusehen, wie unwohl sie sich inmitten der Massen fühlte.

„Was?!" Sascha legte seine Hand ans Ohr, hatte ihn nicht verstanden.

"Mit den Mädchen nach oben!", brüllte Markus gegen den Lärm an, "Damit die auch etwas sehen können", fügte er erklärend hinzu.
Sascha nickte knapp zum Zeichen seines Einverständnisses. Markus wusste, dass sich Sascha sonst immer mit seinen Freunden in den mittleren Rängen aufhielt, doch heute würde dessen Gewohnheit hinter den Versuch, Kathi vom Fußball zu begeistern, zurücktreten müssen.

Während die Schwestern von den höheren Rängen aus neugierig auf das sich rasch füllende Stadion blickten, zog er Sascha zur Seite und raunte:

„Das erste Spiel der beiden. Da kommt es nur darauf an, dass es ihnen gefällt. Sonst kommen sie nie wieder mit."

Sascha sah zu ihren Freundinnen hinüber: Sanne, deren Blick eine gewisse Skepsis verriet, und Kathi, die mit leicht geöffneten Lippen und fasziniertem Blick auf die Fahnen blickte, die allerorten enthusiastisch geschwenkt wurden, und feixte:

„Um Kathi, glaube ich, muss ich mir da keine Sorgen machen."

Er schien Recht zu behalten, Kathis Neugier hatte offenbar die Oberhand gegenüber der bislang vorherrschenden Ablehnung gewonnen. Markus vermutete, dass sie ihren anfänglichen Unwillen, ein Fußballspiel zu besuchen, heute nur unterdrückt hatte, um den wieder hergestellten Frieden zwischen ihr und ihrem Freund nicht zu gefährden.

Sannes Welt hingegen schien der Fußball nicht zu sein. Aber das konnte sich ja noch ändern, wenn erst mal das Spiel begann und Fangesänge ertönten und sich die Aufregung auf das Geschehen auf dem Rasen konzentrierte.

Als Markus die Zwillinge so gemeinsam erlebte, konnte er deutlich die Unterschiede in ihrem Verhalten erkennen. Kathi war eindeutig die Extrovertiertere der beiden, aber ihm war Sannes ruhigeres Verhalten lieber, es passte mehr zu ihm selbst.

„Ich hole uns mal was zu trinken", rief Sascha und war auch schon verschwunden.

Markus legte den Arm um Sannes Schultern.

„Wenn du nichts sehen kannst, hebe ich dich hoch", versprach er und sie nickte und schmiegte sich an ihn.

Kurz vor dem Anpfiff war Sascha zurück, vier Plastikbecher mit Bier gefährlich in seinen Händen balancierend.

„Und?", fragte er und verteilte die Getränke.

„Geil", bekundete Kathi mit strahlendem Gesicht. „Wann geht's los?"

In diesem Moment betraten die Mannschaften das Spielfeld und lautstarker Jubel brach los, als sich Union Berlin aufstellte und der Stadionsprecher die Spieler verlas. Sascha stellte den Becher zu seinen Füßen und schwang mit beiden Händen den Schal über seinen Kopf. Die Ränge waren ein einziges Fahnenmeer. Markus wurde vom Fieber der Fangesänge gepackt und stimmte begeistert in das anfeuernde „Eisern Union, Eisern Union" mit ein, das die Fans nach dem Anpfiff skandierten.

Das hier war etwas ganz anderes als bei Herta, er konnte nicht beschreiben, was es genau war, aber eine ungeheure Spannung hatte von ihm Besitz ergriffen, die ihn mitriss, wenn laute Anfeuerungsrufe der Zuschauer einen Spieler beim Stürmen auf das Tor begleiteten oder ein kollektives Stöhnen im Stadion ertönte, als der Gegner ein Tor schoss. „Eisern Union, Eisern Union", ertönte es wieder aus Tausenden von Kehlen und die Mannschaft nahm die Anfeuerung dankbar auf und versuchte ein ums andere Mal den Schuss auf das Tor des Gegners.

Markus' Blick klebte am Geschehen auf dem Rasen, er fieberte im Angriff mit, hielt die Luft an bei Freistößen des Gegners und ereiferte sich über die Entscheidungen des Schiedsrichters. Nur am Rande seiner Peripherie bekam er vage mit, wie Sanne amüsiert-nachsichtig den Kopf schüttelte und pflichtschuldig nach Schüssen auf das gegnerische Tor mit klatschte.

Und dann blieben nur noch zwei Nachspielminuten und die Union lag noch immer mit 0:1 zurück. Das ganze Stadion verwandelte sich in ein Meer aus Rot-Weiß, Verzweiflung mischte sich in die Anfeuerungsrufe, denn unerbittlich tickten die Sekunden dahin. Ein Schuss auf's Tor, den der Torwart zum Glück abwehrte, dann ein blitzschneller Konter.

Selbst die Zuschauer auf der Haupttribüne hatte es von ihren Sitzplätzen gerissen, Markus hörte sich selbst ungezügelt „Lauf doch!" schreien, hörte Saschas vom vielen Schreien längst heiser gewordene Stimme, und dann knallte der Ball ins Netz, ohne dass man sagen konnte, ob er von außen oder von innen geflogen gekommen war. Sekundenlang verharrten alle bange, bis der Stadionsprecher den Ausgleich bekannt gab, die Anzeigetafel verändert wurde und der Abpfiff in ohrenbetäubendem Jubel unterging.

Markus und Sascha klatschten sich begeistert ab, dann riss Markus Sanne in seine Arme und drückte sie freudestrahlend an sich. Erst als die Spieler sich bei jeder einzelnen Stadionseite unter lautem Klatschen bedankt hatten, brachen sie auf, Sanne mit einem ruhigen Lächeln auf dem Gesicht, Kathi voller Erleichterung über den Ausgleich in letzter Minute, Sascha, der mit rauer Stimme einen Fangesang von sich gab, und Markus mit leuchtenden Augen. Er hatte seinen Verein gefunden.

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