7. Oktober, Kathi

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Kathi

Sie hatten es in den Spätnachrichten gebracht: Der ARD zufolge waren mehr als 700 Personen verhaftet und mit Lastwagen fortgebracht worden. Ich biss mir auf die Lippen und umklammerte unruhig meine Hände. Nicki tätschelte beruhigend meine Schulter.

„Vielleicht war er gar nicht da", sagte sie aufmunternd. „Und ansonsten: bei der ganzen Menge an Leuten ist die Chance, zu diesen 700 zu gehören, doch denkbar klein."

Ihre Logik erreichte mich jedoch nicht.

„Hast du die Bilder gesehen", jammerte ich.

Sicherheitskräfte hatten auf friedliche Demonstranten eingeprügelt und waren mit Wasserwerfern und irgendwelchen Räumfahrzeugen gekommen. Ich war völlig entsetzt und schlug erneut die Hände vors Gesicht, aus Angst davor, dass Sascha etwas zugestoßen sein könnte. Vermutlich konnte ich noch froh sein, dass nicht wie in China geschossen worden war. Und ich saß hier bei meiner Freundin im Wohnzimmer und konnte nichts, absolut nichts tun!

„Am liebsten würde ich sofort nach Ostberlin fahren", verkündete ich und sprang unruhig auf.

„Da kommst du jetzt in der Nacht sowieso nicht hin", wandte Nicki resolut ein und zog mich wieder auf unser Matratzenlager, das wie immer bei unseren Übernachtungen mit Kosmetika, Popcorn und Zeitschriften übersät war. Und sie hatte einen eigenen Fernseher im Zimmer, worum ich sie nomalerweise glühend beneidete, denn unsere Eltern verweigerten uns einen solchen. Jetzt verschwendete ich allerdings keinen Gedanken daran.

„Ich kann ihn noch nicht einmal anrufen", badete ich weiter in Selbstmitleid.

„Das Telefon steht im Flur", erwiderte Nicki mitleidig und fuhr mir mit einer liebevollen Geste über den Kopf.

„Ich kann doch nicht bei seinen Eltern anrufen, du Nuss", schniefte ich. „Und dazu noch mitten in der Nacht!"

Es war sowieso ein Kreuz mit dem Telefonieren in die DDR, oft bekamen wir keine Verbindung zustande und wenn doch, dann war die Leitung grottenschlecht. Aber was hätte ich jetzt dafür gegeben, trotz Knisterns und Rauschens einfach nur zu hören, das es ihm gut ginge!

„Du könntest dich für eine Klassenkameradin ausgeben oder so", schlug Nicki vor und legte den Kopf schräg, um mich anzuschauen.

Wider Willen musste ich kichern. „Sascha hat doch schon Abi gemacht."

Nicki machte eine fahrige Handbewegung. „Na dann eben als ... puh, weiß auch nicht."

Ich langte zu der Taschentuchpackung hinüber, die auf den Boden gerutscht war und putze mir die Nase.

„Was hast du?", fragte Biggi überrascht, die eben aus dem Bad trat und die Nachrichten nicht mitbekommen hatte. Ihr Blick fiel auf den Fernseher, der jetzt den Beginn eines Spielfilmes zeigte. „Ist etwas passiert?"

Nicki sah von mir zu Biggi und wieder zu mir und zögerte.

„In Ostberlin haben Zehntausende für Reformen demonstriert und die Polizei hat mit Gewalt reagiert", erläuterte sie langsam. Mir stiegen wieder die Tränen in die Augen. Warum hatte ich bloß darauf bestanden, die Nachrichten zu sehen! Jetzt in der Nacht war die Angst um Sascha viel greifbarer, als sie es am Tag gewesen war.

Biggi ließ sich auf die Matratze fallen und sah ziemlich verständnislos von Nickis ruhigem Gesicht zu meinem aufgelösten. Aber ich bekam mich einfach nicht in den Griff.

„Sascha...", stieß ich dann hervor, ohne geplant zu haben, ihn zu erwähnen. Ich sah Biggi an, wie sie versuchte, mein Verhalten mit der Situation, die sie kannte, in Verbindung zu bringen.

„Ich dachte, ihr seid auseinander...." begann sie verdattert, aber es war wohl klar, dass man nicht so reagierte wie ich es tat, wenn es sich lediglich um einen Ex-Freund handelte und dämmernde Erkenntnis spiegelte sich auf ihrem Gesicht. „Und...Markus? Oder...bist du jetzt so eine Art Bigamist?"

Trotz der Tränen musste ich lachen, dann schüttelte ich den Kopf.

„Ich hole uns mal neues Popcorn", flötete Nicki, obwohl die Schale noch halb voll war, und verzog sich rücksichtsvoll in die Küche.

Mit einem weiteren Taschentuch trocknete ich mir die Wangen, während Biggi ganz gegen ihre Gewohnheit still blieb und mich nur abwartend ansah. Ich holte tief Luft:

„Das mit Markus...das ist nur Theater."

„Wie jetzt!", unterbrach Biggi mich ungläubig und hatte offenbar ihr Quantum an untypischer Geduld aufgebraucht.

„Er ist mit Susi zusammen. Aber er denkt, sie ist ich. Er weiß nichts von uns Zwillingen."

Eine Sekunde war es still, in der Biggi das Gehörte verarbeitete. Dann brach sie zu meiner Verwunderung in lautes Lachen aus. Diese Reaktion hatte ich jetzt nicht erwartet. Auf meinen ungläubigen Blick hin steigerte sich ihr Gelächter, was wie immer so ansteckend war, dass ich schließlich nicht anders konnte als einzustimmen.

„Ich glaub es nicht", japste sie und hielt sich den Bauch. „Wie lange machst du das Rollenspiel jetzt? Seit dem Sommer?"

Mit einer weiteren Lachsalve krümmte sie sich auf dem Bett. Auch mich schüttelte es jetzt vor Lachen, erneut rollten mir Tränen über die Wangen und meine Bauchmuskeln taten weh, aber es war herrlich! Wie hatte ich das vermisst!

In diesem Moment spürte ich, dass jeder Zwist zwischen mir und Biggi vergeben und vergessen war. Wir waren uns wieder so nahe wie vor den Ferien und als sich schließlich auch Nicki zu uns gesellte und wir uns prustend alle in den Armen lagen, war unser Trio endlich wieder komplett.

„Warum hast du uns denn nichts gesagt?" fragte Biggi verwundert, als wir uns langsam wieder eingekriegt hatten.

„Ich dachte...Dir fällt es doch immer schwer, den Mund zu halten...", druckste ich verlegen herum.

„Oh!", machte Biggi überrascht und wandte sich an Nicki:

„Du hast es gewusst?"

Nicki knabberte an ihrer Lippe, nickte und sah genauso schuldbewusst aus, wie ich mich fühlte.

„Oh", kam es noch einmal von Biggi. Ihr Gesichtsausdruck war nachdenklich, als sie von Nicki zu mir sah. „Das glaubt ihr von mir...?"

„Na ja....", zögerte ich, darauf bedacht, die Wiederherstellung der Freundschaft nicht durch unbedachte Worte zu zerstören, „...weißt du noch, die Sache mit Tina? Und Nils und Judith?"

„Ach das!" Biggi machte eine wegwerfende Handbewegung und faltete ihre Beine in einen Schneidersitz. „Das waren doch keine wichtigen Sachen."

„Waren es nicht?" Nicki warf ihr einen verdutzen Blick zu.

„Nein! Die haben mich nie um Geheimhaltung gebeten! Das war für sie auch nicht schlimm."

Nun war es an uns, „Oh" zu sagen. Das bedeutete, dass der zeitweilige Knacks in unserer Freundschaft völlig unnötig gewesen war. Ich ließ den Kopf in den Nacken fallen und stieß einen Stoßseufzer aus. Welchen Kummer hätte ich mir ersparen können.

„Mädels, wir sollten einfach reden", befand Biggi trocken und nestelte an ihrem Zopf herum.

„Biggi, du hast Recht! Das passiert uns nicht noch einmal", versicherte Nicki und ich pflichtete ihr bei und fügte noch eine ehrlich gemeinte Entschuldigung hinzu.

„Schwamm drüber", schloss Biggi und das rechnete ich ihr dann wirklich hoch an. Und damit war das unrühmliche Kapitel unserer Freundschaft abgeschlossen.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt