13. November, Markus

32 9 35
                                    

Markus

Er spürte nichts. Oder eigentlich viel zu viel. Die Gedanken kreisten in seinem Kopf und gaben keine Ruhe.

Was für ein stürmisches Jahr - mit schockierenden Tiefs wie der Sache mit seinem Vater und dem kürzlichen Entsetzen, das drei Tage lang seine Gedanken beherrscht hatte, und nun auch noch Sannes Geständnis darüber, dass ihre Beziehung auf einer Lüge basierte.

Aber gleichzeitig ein Jahr mit den schönsten Momenten, die er sich denken konnte, die Ausflüge mit Sanne, das Gefühl, jemanden getroffen zu haben, der genauso fühlte wie er, die gemeinsamen Stunden bei ihm zu Hause...

Er hatte das Gefühl, überhaupt nicht zur Ruhe kommen zu können, geschweige denn klar denken zu können.

Mit leerem Blick, der erneut dem Kunstdruck an der Wand galt, ohne dass er hätte sagen können, was er darstellte, blieb Markus daher einfach stehen und umklammerte den Becher mit dem Kaffee, der längst kalt geworden war. Viele Merkwürdigkeiten der vergangenen Monate ergaben jetzt einen Sinn. Dass er sie nie besuchen durfte. Ihr distanziertes Verhalten in der Schule. Die Weigerung, mit Pierre französisch zu sprechen.

Dann schob sich die Erinnerung an ihr „Ich liebe dich" und die tränennassen Augen in den Vordergrund und ließ sich nicht mehr verdrängen. Unruhig rieb er an dem Kaffeefleck auf dem Tisch herum, der dessen Oberfläche damit nur noch mehr verschmierte. Er glaubte Sanne, dass ihr die Lügerei leid tat. Dennoch – warum zum Kuckuck hatte sie überhaupt damit angefangen oder ihm nicht zumindest nach der Party reinen Wein eingeschenkt?

Er konnte es nicht fassen, dass sie ihn monatelang belogen hatte. Dazu gesellte sich das unschöne Gefühl, zu blöd gewesen zu sein, um den Schwindel zu bemerken, obwohl es doch Anzeichen dafür gegeben hatte. Doch lieber hatte er sich von beruhigenden Worten einlullen und vertrösten lassen, als sich mit einer Wahrheit konfrontieren zu lassen, die das Aus für eine Beziehung bedeuten konnte. Wie es jetzt geschehen war.

Markus fuhr sich durch die Haare. War es denn zu Ende? Er hegte weiterhin starke Gefühle für Sanne, trotz allem. Aber er konnte doch nicht so tun, als wäre nichts gewesen...

Frustriert ließ er den Kopf in die Hände sinken. Und langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass er sich eigentlich fragen musste, warum Sanne das Gefühl hatte, ihm nicht die Wahrheit sagen zu können. Das sprach nicht gerade für ihn... Trug er damit nicht eine Mitschuld? Er stöhnte leise und rieb nervös die Hände aneinander. War er fähig, über seinen Schatten zu springen? Noch einmal mit ihr zu reden? Unruhig schob er den Becher von einer Hand in die andere.

Nach einer Weile fiel sein Blick auf die Wanduhr über den Verkaufstresen und er staunte, wie lange er bereits im Cafe war. Da er den Leistungskurs verpasst hatte, entschied er kurzerhand, dass er für den Rest auch nicht mehr zu kommen brauchte. Als er sein Portemonnaie hervorzog, um sich einen Überblick zu verschaffen, wie groß seine Barschaft war, rutschte es ihm ungeschickt aus der Hand, fiel zu Boden und verstreute seinen Inhalt.

Hastig warf er einen Blick in die Runde, aber die übrigen Gäste waren so in das vertieft, was sie taten, dass keiner aufschaute und verschämt sammelte Markus die Münzen und Scheine wieder zusammen. Dabei fiel ihm auch ein Foto von Sanne in die Hände, vermutlich eines der wenigen, die noch heil waren. Er richtete sich wieder auf und betrachtete es lange, erinnerte sich daran, wie er es auf einem Schiffsausflug von ihr geknipst hatte.

Es war ein herrlicher Ausflug gewesen, das Bild hielt das unwiderlegbar fest. Wie glücklich sie in die Kamera strahlte. Unentschlossen kaute er auf seiner Unterlippe herum – und entschied sich dann, noch einmal mit Sanne zu reden. Was sie gehabt hatten, war einfach zu schön, um es sang- und klanglos aufzugeben.

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt