10. November, Susanne

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10. November, Susanne

Schlaftrunken schlug Susanne die Augen auf, noch halb in ihrem Traum verstrickt, in dem ein ständiges Klingeln das Ende der Prüfung ankündigte. Dann wurde sie gewahr, dass es sich um das Läuten des Telefons handelte, das im selben Moment verstummte.

Der Blick auf den Wecker enthüllte, dass es noch nicht ganz sechs Uhr war, es lohnte sich daher nicht mehr wieder einzuschlafen, denn in einer Viertelstunde würde der Wecker ohnehin klingeln.

Susanne drehte sich auf die Seite, schloss noch mal entspannt die Augen und nahm die Schritte ihrer Mutter wahr, die vermutlich ebenfalls durch das Läuten wach worden war, und auf dem Weg ins Badezimmer war.

Einige Minuten später hörte sie ihre Eltern im Flur leise murmeln. Seufzend schälte Susanne sich aus den Bettlaken, schlüpfte in ihren Morgenmantel und blickte in den Schrank auf der Suche nach dem heutigen Outfit. Mit den ausgewählten Kleidungsstücken versehen betrat sie das Bad und verließ es nur kurze Zeit später angezogen, aber mit noch nassen Haaren wieder in Richtung Küche.

Inzwischen war es 6.3o Uhr geworden, wieder klingelte es, aber dieses Mal war es an der Haustür. Verwundert blieb Susanne stehen und fragte sich, wer zu so früher Zeit etwas von ihnen wollen mochte. In der Küche regte sich niemand, anscheinend hatten ihre Eltern nichts gehört. Susanne hatte schon fast entschieden, das Läuten, das zwischenzeitlich aufgehört hatte, zu vergessen, als es von Neuem ertönte. Mittlerweile neugierig geworden, öffnete sie die Haustür - und machte ein überraschtes Gesicht.

Vor ihr stand ein süßer Typ mit dunkelbraunen Stirnfransen, vielleicht ein wenig älter als sie, der sie fröhlich anlachte. Sie kannte ihn nicht, hatte aber das vage Gefühl, ihn schon einmal gesehen zu haben. Bis es ihr zu dämmern begann, sie hatte ihn natürlich auf Kathis Fotos betrachtet. Doch wie...?

Voller Erstaunen brachte Susanne nur ein kurzes „Bist du Sascha?" heraus.

Seine Irritation währte nur eine Sekunde, dann nickte er, streckte ihr ausgelassen die Hand entgegen und sagte:„Hi! Du musst Susi sein. Ist Kathi schon wach?"

„Ja. Äh, nee", gab Susanne überrumpelt von sich, während sie ihm die Hand schüttelte und sich fragte, wie er von der DDR nach Zehlendorf gelangt war.

„Komm erst mal rein."

Sie musste ihre Schwester sofort aus dem Bett holen, hielt es aber für geraten, den Besuch erst mal in die Küche zu führen.

„Sanne, du glaubst nicht, was passiert ist..." begann ihre Mutter in aufgeregtem Tonfall, als sie die Küchentür öffnete, dann gewahrte sie Sascha, hielt inne und warf ihm einen neugierigen Blick zu.

Bevor es Susanne gelang, die fragenden Blicke ihrer Eltern zu beantworten, hatte sich Sascha bereits vorgestellt und reichte auch ihren Eltern höflich die Hand. Diese waren sofort im Bilde.

„Na dann herzlich willkommen in Westberlin", strahlte ihr Vater und wies auf die Eckbank. „Kaffee?"

„Seit heute Nacht sind die Grenzen offen. Sie haben es eben in den Nachrichten gebracht" erläuterte ihre Mutter, an Susanne gewandt, und ergänzte, während sie Sascha Kaffee einschenkte, mit einem glücklichen Lächeln: „Nun ist die Mauer Geschichte."

„Im Ernst?"

Susanne riss ungläubig die Augen auf und vermochte es kaum glauben.

„Sehe ich aus wie ein Geist?", scherzte Sascha, „Heute Nacht bin ich mit einem Kumpel an der Bornholmer Straße rüber."

Dann wanderte sein Blick fragend zur Küchentür. Er war vermutlich zu höflich zu fragen, aber sie hatte ihn auch so verstanden.

„Ich wecke mal Kathi. Die wird sich freuen!"

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt