10. Juni, Sascha

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10. Juni, Sascha

Rainer legte eine Platte von den Puhdys auf, während ich es mir auf seiner Couch bequem machte. Rockmusik dudelte durch den Raum, während wir an unserer Brause schlürften, die wir uns vom Abendbrottisch mit auf's Zimmer genommen hatten. Ich war gern bei Kortmanns zu Hause. Meist waberte der Geruch von Kaffee durch die Wohnung, echter Kaffee, den die Kortmanns von Verwandtschaft aus dem Westen hatten.

Ich mochte die geselligen Abendessen, bei denen regelmäßig über besondere Vorkommnisse diskutiert wurde, jeder durfte etwas dazu sagen und keiner wurde für seine Ansichten kritisiert. Ich kannte Rainer seit meiner Kindheit, wir waren zusammen in den Kindergarten gegangen und hatten jahrelang zusammen gespielt, als wir noch in derselben Gegend gewohnt hatten. Irgendwann hatten wir beide beruflich verschiedene Wege eingeschlagen, er in eine Ausbildung, ich auf die erweiterte Oberschule. Aber Kontakt hatten wir weiterhin zueinander gehalten.

Selbstredend war mein Vater alles andere als glücklich über diese Freundschaft, die Kortmanns waren irgendwie unangepasst, obwohl sie es nicht deutlich zur Schau trugen, aber man merkte es halt doch. Daher hatte ich mir schnell angewöhnt, dass es ratsam war, meine Besuche bei Rainer nicht an die große Glocke zu hängen. Meine offiziell besten Kumpels waren von der EOS, junge Männer, die einmal Stützen des Systems werden sollten. Ich zog eine ironische Grimasse, schlürfte den letzten Rest der Brause und rieb gedankenverloren über den schwarzen Cordstoff der Couch.

„Wann kommt Stefan zurück?", wollte ich angelegentlich wissen und bezog mich auf Rainers jüngeren Bruder, mit dem dieser ein Zimmer teilte.

Rainer zuckte desinteressiert die Achseln: „Keine Ahnung, was weiß ich, der ist grade beim FDJ. Genießen wir die Ruhe, solange wir können". Er stellte die Musik noch etwas lauter.

Für einen Moment lauschten wir den Tönen der beliebten Rockband. „Wie läuft's mit der West-Tante?", fragte Rainer dann unvermittelt.

„Nenn sie nicht so", bügelte ich ihn verärgert ab. Obwohl Rainer der Einzige meiner Freunde war, der über den aktuellen Stand meiner Beziehung zu Kathi Bescheid wusste (selbst Carsten hatte ich nur Oberflächliches berichtet), gab ihm das nicht das Recht, mit abfälligen Bezeichnungen um sich zu werfen. „Gut läuft's", bequemte ich mich schließlich wortkarg zu sagen.

„Wow, das ist ja sehr ergiebig", neckte Rainer mich und fuhr foppend fort: „Dann muss ich wohl eure Briefe öffnen, um mehr zu erfahren."

„Untersteh dich", fuhr ich ihn an und machte Anstalten, mich auf ihn zu stürzen. Lachend wich Rainer aus. „Was hast du eigentlich deinen Eltern gesagt?", wollte ich wissen, nachdem ich Rainer schließlich ersatzweise einen Knuff verpasst hatte.

„Du meinst, wegen der Briefe? Na, die Wahrheit. Meine Mutter findet es süß". Rainer hatte ein leicht anzügliches oder auch amüsiertes Grinsen im Gesicht.

Diesmal war seine Reaktion jedoch nicht schnell genug. Im Nu hatte ich ihn in den Schwitzkasten genommen, bis er gelobte, seine Zunge künftig in Schach zu halten. Etwas außer Atem ließen wir uns wieder auf die Couch fallen.

„Wenn man bedenkt, dass sie dich anfangs am liebsten nur aus der Ferne gesehen hätten..." sinnierte Rainer, „...aus Angst, du könntest alles unverzüglich an deinen Vater weitertragen ...."

Was ich nie getan hatte, obwohl ich ja lange vom System überzeugt gewesen war. „Ausgerechnet!", schnaufte ich daher und stieß ein „Sippenhaft!" hervor.

„Häh?", machte Rainer und guckte verständnislos.

„Wenn die Familie für die Tat eines Familienmitglieds zur Verantwortung gezogen wird..." begann ich zu erläutern und stoppte dann, denn irgendwie passte der Kommentar doch nicht ganz, „...ach, egal. Hast du noch etwas zu trinken?"

Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt