13. August, Susanne

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13. August, Susanne

Susanne hatte die Beine ausgestreckt und beobachtete, wie sich ab und an eine Welle über ihre Füße ergoss. Bei jedem Zurückgleiten nahm das Wasser ein Stück Sand neben ihren Fersen mit, so dass sich ihre Fersen allmählich immer tiefer in den Sand gruben. Kleine Kiesel und Muschelstücke wurden vom Wasser an den Strand getragen und glitten wie eine leichte Massage über ihre Fußrücken. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich auf das beständige Rauschen der Wellen konzentrieren, ein regelmäßiger, beruhigender Rhythmus. Träumerisch glitten ihre Gedanken zu Markus. Wie romantisch wäre es mit ihm an einem einsamen Strand...

Dieser Strand hier war alles andere als einsam, in geringen Abständen lagerten Familien mit Kindern oder Paare, die Luft roch nach Sonnencreme und nach den Pommes, die es auf der Promenade zu kaufen gab. Dennoch genoss sie den Urlaub. Es war so schön, die heiße Sonne auf der Haut zu spüren, ab und zu einen Sprung in das wohltemperierte Mittelmeer zu wagen und abends entspannt in der Hotelanlage zu sitzen. Hoffentlich würde ihr Vater bald etwas Neues finden, damit der Mallorca-Urlaub nicht der letzte seiner Art blieb.

An einem Schwung Sand, der gegen ihre Beine rutschte, merkte sie, dass sie nicht mehr allein war.

„Hier bist du schon", rief ihre Schwester aus und plumpste neben ihr in den Sand. „Uh, heiß!"

Sie zog die Beine wieder unter dem Körper hervor und streckte sie ebenfalls zum Wasser hin. Daraufhin reckte sie das Gesicht der Sonne entgegen und schwieg, doch trotz dieser wunderbaren Umgebung wirkte sie auf Susanne ein wenig angespannt.

„Vermisst du ihn hier mehr als sonst?", fragte sie deshalb geradeheraus.

Kathi nickte und seufzte.

„Besonders, seitdem ich weiß, dass unsere Zeit zusammen nur noch begrenzt ist."

Sie kaute auf ihrer Lippe herum, was ein untrügliches Anzeichen dafür war, dass sie mit sich rang, und blickte stumm auf das Meer hinaus. Susanne hätte ihr so gerne geholfen, aber fühlte sich angesichts der Umstände, die in der DDR herrschten, genauso hilflos wie ihre Schwester.

„Du hast es gut...", murmelte Kathi leise, aber Susanne hörte sie dennoch. Sie schwieg jedoch, denn darauf gab es nichts zu erwidern. Sie beneidete ihre Schwester nicht um ihre Fernbeziehung, jedenfalls jetzt nicht mehr.

„Sascha hat mal über Fluchtmöglichkeiten geredet", gab Kathi nachdenklich von sich und plätscherte mit den Füßen in der nächsten Welle, die sie erreicht hatte. „Ich weiß gar nicht, ob das ein Witz sein sollte oder nicht."

„Hast du nicht nachgefragt?"

Kathi schüttelte den Kopf. „Nee, das ist mir erst später aufgegangen, dass es vielleicht ernst gemeint war."

„Das wäre aber doch gut, oder?", reagierte Susanne ohne nachzudenken.

Kathi zog verärgert die Augenbrauen zusammen und starrte sie finster an.

„Nein! Weißt du, wie viele Menschen bei dem Versuch draufgegangen sind? Denkst du, das will ich?!"

„He, schon gut", Susanne hob abwehrend die Hände und hätte sich ins Knie beißen können für ihre unüberlegte Äußerung. „Daran habe ich nicht gedacht, sorry!"

Wie viel einfacher es doch war, einen Freund aus der BRD zu haben. Aber diesen Gedanken behielt sie vernünftigerweise für sich und zog stattdessen ihren Zwilling tröstend an sich.

„Schon echt schwierig, diese Situation..."

Kathi umfasste ihre Knie und sah deprimiert auf den Sandboden herab.

„Weißt du, was mir auch zu schaffen macht? Dass ich überall Urlaub machen kann, wo ich will, während Sascha nur in ein paar wenige Länder reisen kann. Und überhaupt... was er sonst noch so von der DDR erzählt hat..." Sie seufzte und ließ ihren Satz unvollendet.

„Er ist da nicht glücklich, hm?", erkundigte sich Susanne teilnahmsvoll.

Kathi schüttelte den Kopf und ließ Sand durch ihre Finger rieseln.

„Kann er keinen Ausreiseantrag stellen?"

Wieder schüttelte Kathi den Kopf und erläuterte:

„Da kann man Probleme kriegen, wenn man so was macht. Ich glaube auch, sein Vater ist irgendwas Wichtiges in der Partei oder Behörde oder so, da ist es dann wohl noch schwieriger."

Beide Mädchen schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. Ein paar Meter von ihnen entfernt pickte ein Vogel an einem Stück Brötchen herum.

„Ich weiß auch nicht...", fuhr Kathi ratlos fort, „...es wäre natürlich gut, wenn er aus der DDR wegkäme. Und natürlich wäre es das Schönste, wenn er hier leben könnte. Aber es ist eben verdammt gefährlich. Was, wenn er erwischt wird und ins Gefängnis kommt? Oder noch schlimmer, erschossen wird?" Sie schauderte.

„Ein bescheuertes Land", kommentierte Susanne. Es war wirklich unfassbar, wie die in der DDR mit ihrer Bevölkerung umgingen.

„Hoffnungslos", setzte Kathi deprimiert hinzu. „Na ja, machen wir halt das Beste daraus an den monatlichen Treffen. Solange er noch in Berlin ist..."

Ihre Augen schimmerten verdächtig.

„Ach Kathi" Susanne nahm sie jetzt fest in den Arm und ihre Schwester lehnte sich an sie. So saßen sie einige Minuten, während die Sonne auf sie herunter brannte.

So hat jeder sein Päckchen, dachte Susanne. Dagegen war ihr Problem natürlich minimal. Aber dennoch lag es ihr schwer auf der Seele. Vielleicht sollte sie Markus einen Brief schreiben? Aber wie sollte sie beginnen? Entschuldige, Markus, aber ich bin gar nicht Kathi. Ich habe nur so getan, um zu deiner Party zu kommen – ne, das ging nicht.

Rückblickend war die ganze Idee blöd gewesen. Warum hatte nicht einfach Kathi zugesagt und gefragt, ob sie ihre Schwester mitbringen könnte? Das wäre das Vernünftigste gewesen. Nie würde Markus begreifen, warum sie zu so einem Täuschungsmanöver gegriffen hatte, sie verstand es ja selbst gar nicht mehr. Er würde nur sehen, dass sie ihn angelogen hatte, genau wie sein Vater. Und das würde ihre noch so frische Beziehung sofort kaputt machen.

Susanne schauderte unwillkürlich, daran mochte sie nicht einmal denken. Jetzt blieb ihr nur die Hoffnung, dass sie ein so stabiles Band zueinander schmiedeten, dass es auch eine Lüge aushalten würde. Dass er erkennen würde, dass sie absolut füreinander bestimmt waren und dass er sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen konnte, egal, was sie am Anfang falsch gemacht hatte. Bloß wann würde das sein?

Sie seufzte tief, denn es war nicht leicht, dieses Rollenspiel aufrecht zu erhalten. Ständig musste sie sich vorsehen, wen sie vielleicht treffen könnten, bei dem sie Katharina und nicht Susanne sein musste. Zum Glück war Markus einverstanden gewesen, sie Sanne zu nennen, das machte es für sie einfacher, denn bestimmt hätte sie auf die Anrede Kathi öfters nicht gehört.

Und bei seinen Anrufen, die manches Mal natürlich auch ihre Eltern entgegen nahmen, war es natürlich wichtig, dass er nach ihr und nicht nach Kathi verlangte. Aber sie konnte ihn auf keinen Fall nach Hause einladen. Wenn ihre Eltern womöglich ihre Zwillingstöchter erwähnten... Da würde er doch Eins und Eins zusammenzählen und begreifen, warum sie in der Schule so distanziert war. Puh, was konnte Liebe kompliziert sein...


Herz in den WolkenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt