Am Nachmittag sass Elyas noch immer an Josephs Bett und fühlte sich elend. Sein schlechtes Gewissen nagte an seiner Seele und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sich jetzt bei jemanden aussprechen oder sich bei Joseph entschuldigen zu können. Aber dieser schlief tief und fest. Als Elyas abermals über seine Finger strich, kam seine Mutter ins Zimmer und war überrascht, ihn noch dort zu sehen. „Du bist ja immernoch hier. Du kannst nach Hause gehen. Er merkt wahrscheinlich noch nicht mal, dass du da bist. Er wird auch heute nicht mehr aufwachen, aber er ist stabil." Elyas stiegen Tränen in die Augen und schüttelte irritiert seinen Kopf: „Ich... wir hatten gestern Stress. Ich will einfach für ihn da sein." Seine Mutter guckte ihn fragend an: „Stress? Was war denn los?" Er guckte nach unten und strich sich nervös über die Nase. Seine Mutter war definitiv die letzte Person in diesem Universum, der er erzählen wollte, was für Scheisse er gebaut hatte. Dann sprach er leise: „Ich... ich kann nicht drüber sprechen." Sie guckte ihn enttäuscht an, aber verschwand dann wieder aus dem Zimmer.
Nur Sekunden später piepte sein neues Handy. Er guckte auf die Nachricht: „Hallo, ich weiss, dass es irgendwie doof ist, dich anzuschreiben um zu Joseph durchzukommen. Aber ich wollte wenigstens noch einmal mit ihm sprechen, aber er antwortet nicht. Und er war auch seit heute morgen nicht mehr bei Whatsapp online und ich mache mir langsam Sorgen. Weisst du was? Oder kannst du ihm ausrichten, dass er sich bei mir meldet? Bitte! LG, Lena" Elyas musste traurig lachen, atmete tief durch und schrieb gleich eine Antwort: „Joseph hatte einen Unfall. Er liegt im Krankenhaus im Koma. Ich sag dir Bescheid, wenn es ihm besser geht." Er stützte seinen Kopf auf die Bettkante und liess seine Tränen laufen. Er wünschte sich so sehr, er könnte die Sache rückgängig machen. Wie konnte er so dumm sein? Joseph hatte Recht gehabt, er war der grösste Egoist der Welt!
Als es 10 Minuten später an der Tür klopfte, rieb er sich schnell die Tränen aus dem Gesicht und sagte „Herein!" Eine junge Schwester trat ins Zimmer und sprach mit einer sanften Stimme: „Draussen im Gang wartet eine Frau Lena Müller. Sie sagt, sie möchte zu ihrem Bruder, aber es dürfen nur Familienangehörige zu ihm. Soll ich ihr etwas ausrichten? Sie ist sehr hartnäckig. Oder vielleicht können Sie ja mit ihr sprechen!?" Er nickte stumm und ging nach draussen. Dort empfing ihn eine panische Lena und sie umarmte ihn mit einer hektischen Bewegung. „Bitte, ich will ihn nur kurz sehen!" sprach sie schnell. Er nahm ihre Hand in seine und guckte sie mit traurigen Augen an: „Nur für Familienangehörige, sagen die. In ein paar Tagen ist er wieder wach, dann kannst du ihn sehen. Es ist nur ein künstliches Koma, damit er nicht so leidet." Sie zog ihre rechte Hand weg und wischte sich die Tränen aus den Augen. Ihr Herz verkrampfte sich und sie atmete schwer. Sie legte den Kopf leicht schief und ihre Augen hatten einen flehenden Ausdruck: „Aber es ist nicht wegen uns passiert, oder? Ich meine...er.." Elyas unterbrach sie: „Nein, er wurde von einem LKW angefahren, nur leider hatte er als Motorradfahrer schlechte Karten. Er war auf dem Weg zur Arbeit." Sie nickte beruhigt und drehte sich um und ging den Gang entlang. „Lena!?" rief Elyas ihr hinterher. Sie stoppte und blickte nach hinten: „Ja!?" Elyas schluckte und wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Er wollte so viel sagen, aber fand einfach nicht die richtigen Worte. Er wollte ihr sagen, wie leid es ihm tat. Er wollte ihr sagen, wie sehr er sie liebte. Er wollte ihr sagen, dass er alles wieder gut machen wollte. Er wollte ihr sagen, dass er noch nie eine Frau so sehr wollte wie sie. Aber es stieg eine erdrückende Verzweiflung in ihm auf und er schwieg. Er schüttelte mit dem Kopf und flüsterte dann: „Ach nichts!" Sie ging ganz langsam weiter.
Sie hatte das Verlangen umzudrehen und in Elyas Arme zu laufen und sich bei ihm auszuweinen. Sie sehnte sich nach seinen starken Armen und nach seinem männlichen Geruch. Seine dunklen intensiven Augen würden sie angucken und ihr das Gefühl geben, etwas ganz Spezielles zu sein. Aber sie zwang sich weiter geradeaus zu gehen und Elyas aus ihren Gedanken zu vertreiben.