Noch lange hatte er am gestrigen Tag draussen in der Kälte gesessen. Es war nach einer Weile so unterkühlt gewesen, dass seine Sinne ihm Streiche spielten und er mehmals Leonie aus dem Wald kommen laufen sah. Das erste Mal war er aufgesprungen und wie ein Irrer zu dem Wald gelaufen um sie in die Arme zu schliessen. Aber als er an der Stelle ankam, wo er sie sah, war alles menschenleer und der Wind bewegte die Bäume in einem bedrohlichen Takt. Noch vier Mal wiederholte sich das Spiel und jedes Mal kam die imaginäre Leonie näher, aber nie konnte Elyas sie fangen. Am Ende holte er sich seinen Whiskey aus dem Schrank, trank die halbe Flasche und legte sich berunken ins Bett, wo, wie die letzten Tage, Ava bereits schlief.
Am Morgen stand er hustend und mit leichtem Fieber auf. Er nahm eine heisse Dusche, liess sich danach aufs Sofa fallen und rieb sich seine müden Augen. Normalerweise ass er in der Lobby, aber schon tagelang hatte er sich dort nicht blicken lassen. Ava hatte dafür gesorgt, dass das Essen in seine Wohnung gebracht wurde und nur Sekunden später standen Rühreier, Bagels, Marmelade, Schinken, Orangensaft und Früchte auf dem Wohnzimmertisch. Wie die Tage zuvor hatte er keinen Apettit und quälte sich ein bisschen Rührei und einen halben Bagel rein. Ava ging es nicht anders, legte ihren angebissenen Bagel zur Seite und griff nach einem scharfen Messer um sich eine Kiwi aufzuscheiden. Elyas beobachtete sie und dachte laut vor sich hin: „Leonie mag Kiwis, aber nur, wenn sie ganz süss sind." Ava nickte und spürte, wie ihre Augen feucht wurden. Plötzlich rutsche sie mit dem Messer ab und schnitt sich mit vollen Schwung ins Handgelenk. Sie schrie vor Schmerz auf, liess das Messer fallen und Millisekunden später liefen kleine rote Blutbäche ihren Arm herunter. „Fuck!" rief Elyas, griff nach einen Handtuch und drückte es auf die Wunde. Kurz löste er den Druck um sich die Wunde anzugucken und sofort sprudelte mehr Blut aus Avas Handgelenk. „Wir fahren sofort ins Krankenhaus, komm!" sagte er und zog sie hinter sich her zu seinem Auto.
Als sie in der Klinik ankamen, war das Handtuch bereits komplett rot durchtränkt und Ava wurde schon langsam blass. Schnell wurde sie von einem Arzt untersucht, der fragte, wie das passiert war. Sie zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung, ich bin einfach abgerutscht! Komisch, ich bin sonst überhaupt nicht tollpatschig." Sofort veranlasste der Arzt eine lokale Betäubung um die Wunde nähen zu können und Elyas musste im Wartezimmer Platz nehmen. Von seinem Stuhl aus hatte er eine gute Sicht auf den Eingang der Notaufnahme und sah alte und junge Leute mit gebrochenen Beinen oder Armen, Platzwunden, Entzündungen und und und. Eigentlich war er gar nicht so schaulustig, aber heute schien es ihn wenigstens ein paar Minuten davon abzuhalte, an Leonie denken zu müssen.
Plötzlich kam ein panisches, etwas älteres Ehepaar durch den Eingang gelaufen und die Frau schrie: „Hilfe! Unsere Tochter wurde von einer Biene gestochen und bekommt keine Luft mehr." Etwas Schwarfes bohrte sich in Elyas Herz, denn auch Leonie war allergisch gegen Bienenstiche und hier in Neuseeland gab es sogar bei kühleren Temperaturen so viele, dass er jeden Abend sicher stellte, dass ihre Spritzen mit dem Gegenmittel in der Nähe waren. Er sah, wie sofort eine Schwester und ein Arzt zu der Familie gelaufen kamen. Er beobachtete alles ganz genau und empfand das Ehepaar für viel zu alt um so ein junges Kind zu haben. Es war doch noch nicht mal 2 Jahre alt und die Frau war fast schon 50. Schnell brachte die Schwester eine Liege und die Frau legte das bewusstlose Kind darauf. Es war ein kleines Mädchen mit sonnengebräunter Haut, dunklen lockigen Haaren und vollen Lippen. Elyas Herz stockte und er sagte laut vor sich hin: „Das ist Leonie!" Er rieb sich die Augen, schüttelte den Kopf und dachte: „Nein, nicht schon wieder! Mann, das bilde ich mir nur ein! Reiss dich zusammen, das ist das Fieber!" Noch einmal guckte er zu dem Mädchen auf der Liege und seine Sicht verschwomm. Ihm wurde heiss und sein Fieber verschaffte ihm Schweisstropfen auf der Stirn. Er versuchte sich Luft zuzuwedeln, aber es half nichts. Seine Atmung wurde immer schneller und plötzlich fiel er vom Stuhl.