Was ist, wenn er sich nicht mehr an mich erinnert?

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Es vergingen Stunden und Leonie kuschelte sich noch immer an den Arm von Elyas. Immer wieder fing sie an zu husten und es schien immer heisser zu werden. Sie wimmerte vor sich hin und versuchte immer wieder ihren Papa zu wecken, was aber jedes Mal scheiterte. Langsam wurde ihr schwindelig und ihr Kopf tat weh. Sie wurde aufgrund des Sauerstoffmangels müde und ihren Augen fielen zu.

Sanitäter hatten Ava einen Zugang gelegt und gaben ihr Kochsalzlösung und Medikamente für den Kreislauf. Sie wollten sie eigentlich mit ins Krankenhaus nehmen, aber Ava weigerte sich den Flughafen zu verlassen. Jede Minute wurde sie nervöser und frustrierter. Ihr Herz schlug in einem schweren schmerzvollen Takt und ihr Magen verkrampfte sich vor Sorge und Angst. Ihre Gedanken kreisten: „Was ist, wenn Elyas stirbt? Leonie wäre Vollweise! Und mein Kind? Es hätte keinen Vater und ich würde den einzigen Mann verlieren, den ich jemals geliebt habe!" Immer wieder brach sie in Tränen aus, aber betete zur gleichen Zeit zu Gott. Plötzlich hörte sie aufgeregte Rufe von einem der Rettungsteams: „Schnell, Sauerstoff! Wir haben hier ein Kind und einen Mann!" Ava guckte nach oben zu dem Trümmerberg und sah wie jemand Leonie auf den Arm nahm und ihr eine Sauerstoffmaske über das Gesicht drückte. Ava sprang auf und rannte sofort zu ihr um sie auf den Arm zu nehmen. Genau in dem Moment öffnete die Kleine ihre Augen und kniff sie sofort wieder zu, da sie von der Sonne geblendet wurde. Ava küsste sie liebevoll und wiegte sie hin und her und Leonie schlung ihre Armen fest um ihren Hals.

Endlich wurde auch Elyas geborgen und gleich kniete sich ein Arzt neben ihn. Auch er bekam eine Sauerstoffmaske und bevor Ava fragen konnte, sagte der Japaner auf Englisch. „Er lebt, hat aber eine grosse Kopfverletzung, die sofort behandelt werden muss." Schnell wurden Ava, Leonie und Elyas in ein Krankenwagen gesetzt und ins Krankenhaus gebracht. Dort wurde Elyas von den anderen beiden getrennt und die Kleine wurde untersucht. Nach nur ein paar Minuten später meinte die Ärztin: „Es ist unglaublich: Sie hat noch nicht mal einen Kratzer abbekommen." Dann guckte die Ärztin auf Avas Bauch und fragte: „Wollen wir nicht mal lieber nach dem Kleinen im Bauch gucken?" Ava nickte ganz leicht. Inzwischen war Leonie wieder voll bei Sinnen und hatte sogar gute Laune. Sie schien bereits alles vergessen zu haben oder es als Albtraum abgetan zu haben. Mit einem Lächeln im Gesicht folgte sie Ava und der Ärztin in die Gynäkologie, wo im Gegensatz zur Notaufnahme absolut nichts los war. Ava legte sich auf die Liege und liess sich das durchsichtige Gel auf den Bauch streichen, während Leonie im Zimmer herumlief und alle Geräte ganz genau beobachtete. Die Gynäkologin sagte: „Sie haben ja bereits eine ganz tolle Tochter, so aufmerksam und aufgeweckt." Ava lächelte leicht und sagte: „Sie ist leider nicht meine Tochter, sie ist die Tochter meines Freundes. Aber ja, sie ist sehr intelligent." Die Ärztin erwiderte das Lächeln und sagte: „Und bei der Kleinen da drin ist auch alles OK. Man hört bereits einen starkes Herzschlag und die Grösse passt auch." Ava riss die Augen auf und fragte: „Es ist ein Mädchen?" Die Doktorin guckte etwas überrascht: „Oh, sie wussten das noch nicht. Sorry, ich hoffe, ich habe jetzt nicht die Überraschung kaputt gemacht. Aber hier, man sieht es ganz deutlich!" Ava rief Leonie zu sich, zog sie zu sich hoch und sagte: „Guck mal, das ist deine Schwester." Leonie guckte skeptisch auf die grau-weissen verzogenen Wirbel auf dem Bildschirm und fragte dann aber: „Baby?" Ava küsste sie und antwortete: „Ja, das ist ein Baby."

Zurück in der Notaufnahme wurde das Chaos sekündlich grösser. Immer mehr Leute konnten geborgen werden und wurden ins Krankenhaus gebracht. Mehrmals versuchte Ava bei den Schwestern nachzufragen, wo Elyas war und wie es ihm ging. Aber immer wieder wurde sie nur ins Wartezimmer verwiesen. Dort sassen und standen hunderte von weinenden oder nervösen Menschen herum. Sie guckte sich nach einem freien Stuhl um, aber wurde enttäuscht. Es merkte auch niemand, dass sie schwanger war und man ihr einen Platz anbieten hätte müssen. Daher setzte sie sich auf den Boden und nahm Leonie fest in den Arm. Schluchzend flüsterte sie in Leonies Ohr: „Gleich können wir bestimmt zu dem Papa." Aber in Wirklichkeit starb sie innerlich vor Angst: „Was ist, wenn die Kopfverletzung zu gross war? Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht? Was ist, wenn er sich nicht mehr an mich erinnert? Was ist, wenn er nicht mehr so wie früher ist?" Ein eiskalter Schauer flog über ihre Haut und sie zitterte so stark, dass man hören konnte, wie ihre Zähne aufeinanderschlugen.

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