Kapitel 88

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Morgan fuhr viel zu schnell. So schnell, dass Chloe sich mittlerweile doch angeschnallt und am Sitz festgekrallt hatte. Sie hatte ihn nicht ermahnt oder gebeten abzubremsen, denn sie wusste, warum er so raste. Es war, als würde über Scarletts sterbendem Körper eine Uhr ticken. So laut, dass Morgan sie mit dem aufheulenden Motor zu übertönen versuchte. Doch was hatten sie zu verlieren? Würden sie auf der Autobahn umkommen, würde ihnen sogar einiges erspart bleiben. Sie müssten nicht mehr in einen Krieg ziehen, Morgan müsste sich nicht mehr von Scar verabschieden und Chloe würde nicht mehr um Lauren bangen müssen. Alles könnte so viel einfacher sein.

„Ich mag Vanilleeis. Meine Mama hat das früher immer selbst gemacht. Die Zwillinge haben die Eismaschine aber irgendwann runtergeworfen – da waren sie gerade mal ein paar Monate alt. Da war sogar noch ein bisschen Eis drin, das der Kater auflecken wollte. Mama hat ihn furchtbar zur Schnecke gemacht. Wir haben dann nie wieder Vanilleeis selbst gemacht“, erzählte Chloe plötzlich mitten in die Stille, denn sie sah, wie sehr Morgans Hände zitterten. Sie bebten, so wie sie das Lenkrad umklammerten und deswegen fühlte Chloe sich verpflichtet etwas zu sagen. Zunächst schien Morgan verwirrt, sah sie an, dann wieder auf die Fahrbahn. Er schüttelte immer wieder den Kopf, doch Chloes Plan schien aufzugehen.

„Ich mag kein Vanilleeis“, antwortete er nämlich und augenblicklich wirkte er etwas ruhiger. „Hab davon mal zu viel gegessen und eine Nacht über dem Klo gehangen“, erklärte er sich und kratzte sich im Nacken.

„Dafür kann das Eis ja auch total viel“, entgegnete Chloe trocken und beide mussten sogar etwas lächeln. Sie fühlten sich nicht besser, denn eine neue Freundin und irgendwie auch alte Bekannte verblutete in ihrem Rücken. Es war keineswegs falsch über Belangloses zu sprechen. Vielmehr menschlich und sehr tröstlich für beide.

„Was machen wir, wenn wir da sind?“, zog Chloe jedoch dann einen harten Strich unter die lockere Konversation. Morgans Blick verdüsterte sich leicht.

„Die Offiziere sind alle im Palast. Einige Ausbilder und Krieger müssten in Resistentia für Ordnung sorgen. Vielleicht schaffe ich es, mit einem Kollegen Kontakt aufzunehmen und er lässt uns rein.“

„Und wenn nicht?“, stellte Chloe die Frage, die beiden durch den Kopf ging. Morgan zuckte mit den Schultern, er wusste es nicht. Er wusste nur, dass Regenerationis Scars einzige Chance war. Sie mussten dorthin gelangen und jemanden finden, der ihnen half. Kostete es, was es wolle. Chloe hoffte auf das Gute im Menschen, auf das Gute in den Kindern, die zurück geblieben waren. Sie hoffte so sehr. Und Morgan auch, auch wenn er insgeheim schon so viel an Scarlett aufgegeben hatte. Er wusste, wie es um sie stand und dass auch ihre übernatürlichen Genesungskräfte irgendwann verbraucht waren. Jeder normale Mensch wäre schon längst tot. Scarlett konnte sich gerade noch so am Leben halten und ihr Ableben herauszögern. Doch von Heilung konnte hier keine Rede mehr sein. Und deswegen beschleunigte Morgan wieder und alsbald waren sie an der richtigen Ausfahrt angelangt. Nun trennten nur noch wenige Kilometer das Gelände des Resistentia-Ordens, ein Ort für verlorengeglaubte Kinder, und den kleinen Wagen einer Familie aus Londons Innerstem sie.

Die junge Frau hatte gerade für einige Sekunden ihre Augen geschlossen, als ihre Kollegen sie wieder in die Realität holten. Sie stand an die massive Mauer gelehnt da und öffnete ihre Augen, als einige junge Uniformierte ihre Pause einläutend auf sie zukamen und munter miteinander sprachen.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt