Kapitel 11

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Hailey zitterte. Sie klammerte sich an Mar‘ s Arm fest. „Bereit?“, fragte diese. Hailey nickte. Mar öffnete mit der freien Hand die Tür und sie betraten den Behandlungsraum. Ein Arzt kam auf sie zu und schüttelte ihre Hand. Hailey hatte seinen Namen vergessen. Er war irrelevant. Ihre Angst nahm sie ein. Die Angst, die Erinnerung, die Befürchtung. „Hailey Rose, du siehst gut aus!“, lachte er mit seinen Zähnen aus der Zahnpastawerbung. Ob er sie geklaut hatte? Und was für einen Schwachsinn dachte Hailey da gerade?! Mar half ihr auf das Behandlungsding, dessen Namen wohl niemand jemals erfahren würde. „Setzen Sie sich, Miss Westminster!“, forderte er Mar auf. Höchst widerwillig gehorchte sie. Der Arzt lächelte wieder. Es war kurz getrübt gewesen, als Mar gezögert hatte. Er kannte Mar. Jeder kannte Mar. Ein Fehltritt seinerseits und die unschöne Szenerie von letzter Woche würde sich wiederholen. Er würde wieder seine „Gehilfen“ holen müssen. Und ein weiteres Mal würden Gedächtnisse ausgelöscht werden müssen. Und ja, das war der Grund, weshalb er lächelte. „Gut, ich würde sagen den Gips nehmen wir dir heute ab!“ Mar stutzte. „Woher wissen Sie denn, dass das Bein schon wieder verheilt ist?“ Der Arzt zögerte und fuhr sich durch seine perfekt frisierten Haare. „Durch die Röntgenaufnahmen, Miss Westminster!“ Mar lachte auf. „Welche Röntgenaufnahmen?“, fragte nun Hailey. „Wir haben doch gestern ihr Bein geröngt, Miss Rose! Die Tabletten scheinen Sie etwas zu verwirren.“, lachte er unsicher und schob seine Hand auf ihre Stirn. „Leichtes Fieber. Sie reagieren tatsächlich ungewöhnlich auf die Medikamente!“ Er schluckte und Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn. Denn er wusste, Mar glaubte ihm nicht. Kein einziges Wort. Sie wusste, dass sie Hailey vollgepumpt hatten, damit ihre Knochen binnen weniger Wochen wieder verheilten. Sie wusste es. Doch Mar musste sich zusammenreißen. Sie durfte das, was letztes Mal passiert war nicht noch einmal riskieren. Das wäre äußerst ungünstig. Schließlich hatten sie eine Mission. Innerlich lachte ihr trockener Humor auf. Mission. Superman oder was? James Bond, Batman? Farblich wäre wohl Spiderman am passendsten. Mar atmete zischend aus, spürte, wie sie sich langsam entspannte. Und das bemerkte auch der Arzt. Er durchtrennte Hailey‘ s Gips. Gänsehaut überzog Hailey bis in die Zehenspitzen. Sie hatte Angst. Fürchterliche Erwartungen spukten in ihrem Kopf umher und verhöhnten sie. Sie spuckten ihr ins Gesicht und ließen sie zittern. Sie hatte Angst, wieder ein blutiges Schlachtfeld voller kriegerischer Maden zu sehen. Doch nichts dergleichen geschah. Nicht mal ein blauer Fleck, gar nichts. Zu ihrer Verwunderung beruhigte sie das nicht im Geringsten. Sie wusste, dass das nicht normal sein konnte und suchte Mar‘ s Blick. Die Worte des Arztes rauschten an ihr vorbei. Wie das Meer. Sie wollte zurück, zurück zum Meer. Früher hatte sie mit ihren Eltern häufig Urlaub am Mittelmeer gemacht, doch jetzt würde ihr sogar die britische Ostküste Reichen. Hauptsache sie konnte wieder das Rauschen, das Platschen, das Schmatzen des Ozeans hören. Die Zehen in den nassen Sand bohren, das Salz der Luft in ihrer Kehle kratzen spüren. Ja, sie hätte alles dafür gegeben genau jetzt mit ihrer Familie am Meer zu sein. Doch im Moment war sie sich nicht mal sicher, ob ihre Mutter und ihr Vater noch lebten. Als Mar ihr vom Tod ihrer Mutter berichtet hatte, hatte sich eine nagende Angst in ihrem Hinterkopf ausgebreitet. Diandra Westminster ist tot. Zufall? Was ist mit deinen Eltern? Doch sie hatte sich verboten darüber nachzudenken. Schließlich konnte sie sich ja nicht sicher sein, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag. Irgendwann, da war sie sich sicher, würde sie mit Mar zusammen den kleinen Kellerraum aufsuchen und nach der Akte mit ihrem Namen sehen. „Haben Sie noch Fragen?“ Hailey schreckte aus ihren Gedanken und schüttelte monoton den Kopf. Sie sah an sich herab und bemerkte die dünne Schiene an ihrem Unterschenkel. Doch nachzufragen, wie lange sie diese tragen musste, traute sie sich nicht. Mit Sicherheit hatte er ihr das bereits gesagt. Oder zumindest erwähnt. Doch in Hailey‘ s Kopf rauschte noch immer das Meer. Sie schmeckte noch immer das Salz auf der Zunge. Und sie spürte noch immer das kribbelige Wasser an den Füßen. Den ganzen Abend. Selbst im Traum hörte sie das sanfte anschlagen der Wellen an die zahllose Schönheit des Strandes. Selbst im Traum.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt