Kapitel 6

9.5K 669 20
                                        

6.

Als Mar wieder aufwachte, lag sie in ihrem Bett. Langsam setzte sie sich auf und spürte, wie jeder einzelne Muskel ihres Körpers sich streckte. Eine Weile starrte sie ihre Finger an, bis ihr einfiel, was ihr gestern oder wann auch immer wiederfahren war. Ruckartig riss sie den Kopf herum und erblickte Hailey Rose, die friedlich in ihrem Bett schlief. Es schien ihr besser zu gehen. Was die ihr wohl gepumpt haben?, fragte sich Mar, doch sie ließ sich nicht viel Zeit darüber nachzudenken und stand auf. Sie musste den Kopf freikriegen. Den kühlen Herbstwind ihre Haare durchfahren fühlen und den verräterischen Geschmack des Internates auf der Haut kribbeln spüren. Und so ging sie an ihren Schrank und schlüpfte in ihre Sportsachen. Leise schloss sie hinter sich die Tür und beschloss heute mal ohne Kopfhörer loszuziehen. Den langen Flur und die Treppe herab erreichte sie schließlich die Tür nach draußen. Und dann gab sie sich der Natur, der Einsamkeit und ihren Sorgen hin und rannte und rannte und rannte.

Mit brennenden Wangen und einer eisigen Lunge erreichte Mar schließlich wieder das Internatsgebäude nach einer ausgiebigen Morgenrunde. Sie hatte lange überlegt und die Zeit war dabei wie im Fluge vergangen. Wenn sie so Recht nachdachte viel ihr auf, dass sie nicht mal mehr wusste welchen Weg sie gelaufen war. Sie wusste nur noch, dass sie über Hailey nachgedacht hatte. Über ihre Halluzinationen und ihre unsagbar schmerzerfüllten Schreie. Sie wusste noch, dass sie Hilfe geholt hatte und am Ende in einer Art verrücktem Science-Fiction-Labor betäubt wurde. Nur konnte sie sich auch dabei nicht erinnern, wann das ganze geschehen war. Es musste morgens gewesen sein, ja, aber mehr wusste sie nicht. Und jetzt war auch wieder ein Morgen. Kurz vor sieben Uhr um genau zu sein. Das heißt, die schreckliche Szenerie hatte sich gestern abgespielt. Verschwitzt ging sie zu ihrem Zimmer und trat ein. Hailey war mittlerweile wach und saß vor ihrem Kleiderschrank. „Was machst du denn da? Du sollst doch bestimmt noch nicht aufstehen.“ Hailey grinste. „Wieso, mir geht’s doch gut. Amelia war schon da und eine Krankenschwester und die meinten, ich kann morgen oder übermorgen schon wieder laufen!“ Mar konnte es nicht fassen. Sie begann zu zittern und ihre Knie gaben nach. „Haben sie dich so schnell unverwundbar gemacht? Mein Gott Hailey, gestern noch hattest du unglaubliche Schmerzen und hast den Tod oder sonst was gesehen und heute bist du schon fast wieder gesund? Die haben deine Verletzung ausgenutzt und dich mit ihren scheiß Drogen vollgebummert.“ Hailey runzelte die Stirn. „Gestern?“ Mar nickte immer und immer wieder. „Gestern lagst du schreiend im Bett, Hailey!“ Doch Hailey schien davon nichts zu wissen und schüttelte den Kopf. „Das musst du geträumt haben. Mir geht’s gut, Mar, wirklich!“ Fassungslos schüttelte Mar den Kopf. „Nein, nein das habe ich nicht geträumt. Was ist los mit dir? Wie kannst du dich nur nicht daran erinnern?“ Und dann schien die Lösung in Mar‘ s Händen zu liegen, wie ein offenes Buch. „Die haben dir wieder irgendwas gepumpt, hä? Dein Gedächtnis ausgelöscht!“ Hailey‘ s Fragezeichen auf der Stirn wurden immer größer. Mar schien es ernst zu meinen. Ihr Traum musste ziemlich realistisch gewesen sein. „Mar ernsthaft! Es war nichts!“ Doch das akzeptierte die Löwin nicht und sprang auf. Kurzerhand hob sie Hailey unter lautem Protest hoch und setzte sie in ihren Rollstuhl. „Mar, was soll das? Ich hab noch nicht mal was an!“ Doch das interessierte sie nicht und sie warf eine Decke über Hailey‘ s nur von weißer Spitze bedeckten Körper. Wie ein flammender Blitz schob sie Hailey aus dem Zimmer und zur Krankenstation. „Die haben mich von dir weggezerrt, Hailey. Hörst du? Die Scheißkerle wollten mit dir alleine sein, damit sie dich ungestört gefügig machen können. Die haben mich betäubt, verstehst du?“ Und ohne auf die Krankenschwestern zu achten, die bei Mar‘ s lauter Wutparade auf den Flur kamen steuerte sie auf die Tür mit dem „Eintreten nur Befugten gewährt“-Schild zu. Das Schloss war verriegelt, doch ein einfaches Stück Metall konnte die Löwin nicht abhalten. Mit einem kräftigen Tritt öffnete sie die Tür, doch was für ein Anblick sich ihr dann bot raubte ihr jegliche Geistesgegenwärtigkeit und Vertrauen in die eigene Zuverlässigkeit. Eine simple Abstellkammer tat sich vor den beiden auf. Kein gruseliger Patientenstuhl. Keine Spritzen, keine psychomäßigen Geräte, nichts. Nur Besenstiele und Wischmöppe. Eine Hand legte sich auf Mar‘ s Schulter. „Ich glaube es ist besser, wenn du und Hailey jetzt auf euer Zimmer geht und euch für das Frühstück fertig macht. Du scheinst wohl einen sehr lebhaften Traum gehabt zu haben.“ Und Mar war so geschockt und kampfunfähig, dass sie einmal tat, was man ihr sagte.

Beim Kampftraining saß Hailey daneben und sah nur zu. Mar konnte ihre Verwirrung kaum in Grenzen halten und so erzählte sie Chloe und Ava von ihrem angeblichen Traum. „Die verarschen uns nach Strich und Faden.“, zischte sie, doch Ava und Chloe waren unschlüssig. „Aber es war doch nur eine Abstellkammer Mar! Wie sollten die das so schnell alles fortschaffen?“ Mar zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Um den guten Schein zu bewahren würden die sich doch gegenseitig umbringen.“ Mar verschwendete keine Zeit damit, weiter Ava und Chloe zu überzeugen. Sie widmete sich dem Kampftraining, doch als Morgan zu ihr kam konzentrierte sie sich auf seine zarten und unauffälligen Berührungen. Sie war dieses Versteckspiel leid, schließlich wusste doch jeder von ihrer Beziehung oder was auch immer das war. Und so ergriff sie sein Handgelenk und zog ihn zu sich. „Mar…“, hauchte er und sie sah den Nachthimmel in seinen Augen glitzern. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er grinste und seine Zähne leuchteten heller als die Sterne. „Morgan…“, setzte nun sie an, doch er legte seinen Finger auf ihre Lippen. „Später!“ Das waren diese Momente in denen Mar Schwäche und Gefühle zuließ. „Später in meiner Wohnung!“, flüsterte er und lief zurück zu den anderen.

Hailey hatte nun viel Zeit sich ihren Mitschülern zu widmen, wenn man das so nennen konnte. Ihr war furchtbar langweilig und sie fühlte sich noch zu schwach um zu laufen. Alles schien so surreal und verzerrt, ihre gesamte Vorstellung der heutigen Welt verzog sich ins Abstrakte. Es war auch das erste Mal, dass sie bewusst an ihre Eltern dachte. An ihren Abschied und an ihre bedingungslose Liebe, trotz dem zum Ende hin trist monotonen Alltag, den sie zusammen verweilt hatten. Leben, das war es nicht mehr gewesen. Schon lange nicht mehr. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem ihre Eltern nicht nach Hause gekommen waren. An den Tag an dem Robyn wie wild gegen ihre Tür gehämmert hatte und sie zum Buckingham Palace gezerrt hatte. In Strömen wüteten die Massen auf die einst so prunkvolle Residenz zu. Stundenlang hatten sie gewartet und irgendwann hatten einige Jugendliche begonnen Feuerwerkskörper der übleren Art auf die Mauern abzufeuern. Rebellion, Rebellion, schrien sie. Wogegen? Das wusste mittlerweile keiner mehr. Gegen die Monarchie, gegen die Gesetze, gegen das Wetter und die Speisekarte im kleinen unbedeutenden Pub an der Ecke. Sie brauchten keinen Grund mehr um zu hassen, sie brauchten nie wieder einen Grund. Und Hailey, Hailey war wie gelähmt gewesen. Als die Tumulte begonnen hatten konnte sie sich nicht rühren. Sie spürte noch heute den Schmerz in ihren Gliedern als sie umgerannt worden war und tausende nackte Füße sie blutig getrampelt hatten. Bis sie nur noch tiefennasse Schwärze und grauen Lebenssaft geschmeckt hatte.

„Hey Hailey!“, riss Adam sie plötzlich aus ihren Gedanken. Er hockte sich neben sie und legte seine Hand auf ihre und nur für wenige Bruchteile einer Sekunde schien die Zeit anzuhalten. Das Internat existierte nicht mehr, niemand war ermordet worden, sie lebte glücklich mit ihren Eltern zusammen. Doch wie gesagt, die Zeit blieb nicht ewig stehen. „Wie geht’s dir?“ Sie mochte diese Frage nicht. Man zwang sie dazu, zu lügen, denn jeder wollte nur diese eine Antwort. „Gut.“ Und wenn man den Supersonderpreis gewonnen hatte gab es noch ein desinteressiertes „Und dir?“ dazu. Denn hätte sie die Wahrheit gesagt, so hätte sie „Ich lebe in einer Hölle und jede Sekunde scheinen die Flammen, die mich zu verzehren drohen größer und eisiger zu werden. Ich habe das Gefühl zu fallen, ohne Boden, ohne Netz und doppelten Boden und ohne verdammte Sicherheit. Ich weiß, dass wenn ich irgendwann aufkomme sterben werde. Ich werde aufhören zu atmen, zu denken, zu leben. Ich werde nicht mehr Hailey Rose sein. Und dieser Aufprall wird genau dann eintreffen, wenn ich aufgehört habe Mar zu vertrauen. Euch zu vertrauen. Ich habe keine Ahnung, was Mar letzte Nacht geträumt hat oder was zur Hölle sie genommen hat. Ich weiß es wirklich nicht, aber das ist völlig irrelevant. Bitte zeig mir, dass ich dir vertrauen kann und dass es sich lohnt zu rebellieren.“ Gesagt. Doch stadtdessen sagte sie das klischéebespuckte „Gut!“ und weil sie Adam gut leiden konnte gab es ein herzerwärmend nüchternes „Und dir?“ noch gratis dazu. Super oder? Sie nannte es den Hailey-hält-lieber-die-Klappe-anstatt-ihre-Seele-sprechen-zu-lassen-und-tut-so-als-wäre-alles-super – RABATT.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt