Kapitel 81

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„Was meinst du, wie lange wird sie brauchen?“ Schulterzuckend rührte Ava in der Kanne Tee, die sie gerade gebrüht hatte und suchte im Schrank nach etwas Essbarem. Jackson hatte das meiste unangerührt gelassen, vieles war ohnehin nicht mehr genießbar und somit konnte Ava nur einen Teller Zwieback bereitstellen. Ausatmend lehnte sie sich gegen die Arbeitsplatte und überlegte. Ja, wie lange würde Hailey brauchen, um über den Tod ihrer Eltern, den Anblick, der sich unwillkürlich in ihr Hirn eingebrannt hatte hinwegzukommen? Sie selbst war zwar bereits als Halbwaise damals in den Orden geholt worden, aber dennoch verbot sie sich jeglichen Gedanken an ihren verbliebenen Vater und was mit ihm geschehen war. Irgendwann würde sie es herausfinden und sie würde damit klarkommen müssen. Gerade wollte sie Jackson antworten, dass sie Hailey einige Tage geben würden müssen, als diese schon selbst antwortete.

„Ich bin bereit, mir geht’s gut.“ Ruckartig drehten sich beide zur Tür und konnten ein kurzes Starren auf den miserablen Zustand der Freundin nicht verhindern. Haileys Haar hing ihr wirr im Gesicht, die Augen waren verquollen und die Nase lief unaufhörlich. Sie lehnte im Türrahmen und es war nicht schwer zu erkennen, dass sie sich selbst gerade so auf den Beinen halten konnte.

„Hailey, geh schlafen. Wir kümmern uns schon um alles!“, meinte Ava sanft und ging auf das Mädchen zu.

„Es ist okay, ich komm' klar. Wir können anfangen.“ Jackson reagierte ganz anders als Ava. Diese wirkte noch ungläubig, während die Fremde sofort in ein geschäftiges Pläneschmieden verfiel.

„Wir sollten bis Tagesanbruch warten und dann das Lager aufsuchen.“ Hinter Hailey tauchte Chloe auf, die die Nacht bei ihr im Zimmer verbracht hatte.

„Wo ist das Lager?“, fragte Hailey, lehnte derweil den Zwieback ab.

„Im Altersheim“, erklärte Jackson. Ava merkte, dass sie Hailey nicht von ihrem Vorhaben abbringen können würde, daher brachte sie das Geschirr zur Spüle und beteiligte sich.

„Das ist 'ne Ecke weg vom Buckingham Palace. Wenn die Leute sich auf unsere Seite stellen, können wir das nicht als unseren Stützpunkt verwenden. Zu weit weg.“ Jackson musste Ava zustimmen, sie würden sich ein anderes Gebäude suchen müssen. Die nächsten Stunden verbrachten sie damit Klamotten von Hailey und ihrer Mutter anzuziehen und einige kurze Versuche eine Überzeugungsrede zu üben, brachen sie ziemlich schnell ab. Wie konnte man schon trainieren, Menschen von einem Krieg auf einer klar unterlegenen Seite zu überzeugen. Sie hatten keine wirklichen Argumente für sich, außer das Recht und dass Resistentia keinesfalls mit friedlichen Absichten kommen würde. Wenn die verbliebenen Briten sich nicht zu ihnen gesellen würden, würden sie ohne Rücksicht auf Verluste morden. Gegner konnten sie nicht gebrauchen, das war klar. Ava war der festen Überzeugung, dass Morgan während ihres Aufenthaltes hier im Internat verbündete suchen würde. Hauptsächlich in den Ausbildern, vielleicht auch in den Soldaten. Obwohl diese sich wohl kaum gegen die mächtigen Offiziere und Krieger stellen würden. Dafür waren sie schlichtweg zu jung und ängstlich. Jackson war immerhin schon achtzehn, Ava, Chloe und Hailey siebzehn. Sie waren mitunter die Ältesten. Früher als geplant verließen sie Haileys Elternhaus und schlichen durch die Straßen. Tatsächlich, das einst lebhafte London hatte sich in eine Geisterstadt verwandelt. Jegliche öffentliche Einrichtungen waren leer gefegt und größtenteils demoliert. Eingeschlagene Fensterscheiben, eingetretene Türen, besprayte Häuserwände. Das Altersheim war in der Nähe Haileys ehemaliger Schule. Allgemein waren so gut wie alle öffentlichen Einrichtungen wie ein Kreis in der Nähe des Palastes gebaut, damit ein schneller Zugang gewährleistet werden konnte. Mittlerweile waren sie alle ungenutzt, außer das Altersheim. Der mehrstöckige Block musste irgendwann mal freundlich ausgesehen haben. Die Backsteinfassade ließ schon früher wenig Licht in das Gemäuer, aber damals waren wenigstens die heute von Rollläden verdeckten Fenster Sonnenstrahlen herein. Das Gebäude war umgeben von einem früher grünen und jetzt grau verschneiten Park. Angrenzend war eine Kindertagesstätte und dann Wohnhäuser. Zur Straße gewandt fanden die Mädchen schließlich den verriegelten Eingang. Erst versuchten sie es mit der rostigen Klingel, dann mit Klopfen und schließlich gaben sie auf. Keiner von ihnen hatte Waffen mit, womit man das Schloss hätte knacken können. Sie wollten ihre zwingend notwendigen künftigen Anhänger nicht verschrecken. Und so konnten sie nichts tun. Missmutig setzten sie sich auf den kleinen Absatz und ließen die Kälte in ihre dicke Kleidung kriechen. Gerade als Ava vorschlagen wollte den Rückweg anzutreten, kratzte es leicht hinter ihnen. Ruckartig drehten sie sich um und starrten die massive Tür an. Wieder knarzte es leicht und es wurde gerade so ein großer Spalt geöffnet, dass ein Augenpaar sie einnehmen konnte.

Die SoldatinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt