75: Coming Out🏳️‍🌈

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Es fühlte sich an wie damals - wieder hatte sich diese unangenehme Stille über den Esstisch ausgebreitet. Auf dem Tisch stand der frisch gebackene Apfelkuchen seiner Mutter, der zu ihren Spezialitäten zählte und nur zu besonderen Anlässen gebacken wurde. Filip wusste wie glücklich seine Mutter war, dass sie so unerwartet bei ihnen vorbeigeschaut haben. Doch er wusste auch, dass sie diese Freude legen würde, wenn sie den wahren Grund für ihr Erscheinen erfahren würden. Die Kinder waren gerade mit Bruno, dem Hund seiner Eltern spazieren, den die beiden über alles liebten. Die perfekte Gelegenheit um dieses unschöne Thema nun anzureißen. Er wusste, dass sein Vater bereits den Braten gerochen hat, denn dieser räusperte sich nun: "Und was führt euch so unerwartet hierher?", brach seine Stimme die Stille und Anetas Vater schloss sich an: "Ihr wolltet reden?"

Filip warf einen ängstlichen Seitenblick zu Aneta hinüber, die neben ihm am Tisch saß. Er spürte wie ihre Hand sich auf seine legte, damit er sich wieder etwas entspannte. Die Nervosität sorgte dafür, dass er das Gefühl hatte zu ersticken. Wo sollte er anfangen? Die ganze Nacht hatte er sich Gedanken gemacht, wie er ihnen am schonendsten die Wahrheit offenbaren sollte. Doch trotz der zahlreichen Stunde, die verstrichen waren, war er zu keiner sinnvollen Lösung gekommen. Er stand vollkommen unbereitet hier. Eigentlich hatte er genug Zeit gehabt sich auf diesen Moment vorzubreiten, schließlich wusste er seit seinem siebzehnten Lebensjahr, dass er schwul war. Trotzdem fühlte es sich so an, als würde er ins eiskalte Wasser geworfen werden ohne Rettungsring oder rettende Insel. Auch wenn er das Gefühl hatte keinen Ton aus seiner Kehle entlocken zu können, weil es sich anfühlte, als würde sie ihm zugeschnürt werden, fasste Filip seinen ganzen Mut zusammen und begann: "Also was wir euch mitteilen wollen.." Weiter kam er jedoch nicht, da unterbrach ihn seine Mutter mit einem erfreuten Aufschrei: "Sagt nicht wir werden nochmal Großeltern... Aneta ist schwanger, ist es das was ihr uns mitteilen wollt?", kam es aufgregt von Filips Mutter. Im selben Moment wie sie diese Worte ausgesprochen hatte, verschluckte sich Aneta an ihrer Tasse Kaffee, denn sie hatte gerade etwas trinken wollen.

Während sie gefühlt den halben Kaffee auf dem frischen weißen Tischtuch verteilte und ihre Mutter ihrer Tochter besorgt auf den Rücken klopfte, bis diese wieder Luft bekam und sich von diese Aussage erholt hatte, ergriff Filip wieder das Wort. "Nein Aneta ist nicht schwanger.  Was wir euch eigentlich mitteilen wollten ist, dass wir uns scheiden lassen. Also wir haben vorhin die Scheidungspapiere abgegeben und warten jetzt nur noch auf die amtliche Bestätigung", hatte Filip nun die Bombe zum Platzen gebracht. Sofort herrschte wieder diese unangenehme Stille und es folgte einige Minuten Schweigen, während alle Anwesenden das Gesagte erstmal verdauen musste. Unterdessen warf Filip Aneta einen besorgten Blick zu, die nach ihren Hustenanfall noch immer knallrot war, sich jedoch langsam wieder beruhigt hatte. Sie gab ihm zu verstehen, dass es wieder ging. Erleichtert atmete Filip auf. Doch das war noch der einfachere Schritt gewesen. Der schwere würde noch folgen. Doch er wollte erstmal warten, wie sie auf den ersten Schock reagierten, bevor er sie mit dem zweiten überollen würde.

Auf die Stille folgte wildes Durcheinenadergerede, in welchen es den beiden schwerfiel den Überblick zu behalten:

"Aber wieso? Ihr ward doch immer das perfekte Paar?",kam es entsetzt von Filips Mutter, die noch immer kreidebleich war, dass Filip sich Sorgen machte, sie würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn er ihnen jetzt noch eröffnen würde, dass er schwul ist. "Was ist vorgefallen?", wollte Anetas Mutter sofort von ihrer Tochter wissen und musterte diese besorgt. "Wer hat wen betrogen?", kam es sofort von seinem Vater, während Anetas Vater, der Ansicht war, dass egal was vorgefallen wäre, es doch bestimmt Wege gäbe, die Sache anders zu klären. "Würdet ihr uns mal die Gelegenheit geben, die Sache zu erklären?", verschaffte sich Aneta Gehör, der die Spekulationen der Beteiligten nun echt auf den Zeiger ging. "Wir waren nie das perfekte Paar. Dass alles hier, hat genau an diesem Ort vor etwa achtzehn Jahren mit einer Lüge begonnen", sprang nun Aneta ein, um etwas von der Last, die auf Filips Schultern ruhte, abzunehmen. Und auf einmal hatte sie ihm die perfekte Überleitung parat gelegt. "Ihr erinnert euch sicher noch daran, dass ich damals gesagt habe, dass ich Aneta nicht heiraten kann. Der Grund wieso ich Aneta niemals hätte heiraten dürfen ist, weil ich schwul bin", sprach Filip nun die Worte aus, die ihm so schwergefallen waren auszusprechen. Sobald er diese drei Worte entlockt hatte spürte er einerseits wie die Angst vor ihrer Reaktion durch seinen Körper fuhr, anderenseits spürte er auch etwas was von ihm abfiel. Eine gewisse Erleichterung machte sich in ihm breit. Es war eine gewisse Befreiung. Er spürte wie die Schutzmauer hinter der er sich immer versteckt hatte, in sich zusammenzufallen schien. In diesem Moment hatte er das Gefühl, dass er zum ersten Mal, der Filip Jicha war, den er bereits immer hätte sein können. Er hatte diese Maske, die er jahrelang getragen hatte, um sein wahres Ich zu verstecken, abgelegt und nun kam endlich das wahre Ich ans Licht.

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